Jugendstrafrecht in den Niederlanden
- ein Vergleich -
Die Unterschiede zwischen dem niederländischen und dem deutschen Jugendstrafrecht sollen die derzeitige Situation des Niederländischen Jugendstrafrecht im Vergleich zum Deutschen beleuchten und verdeutlichen.
Unterschiede bei der Reichweite der Gesetze
Nach niederländischem Recht beginnt die Strafmündigkeit schon mit 12 Jahren, während Strafverfolgungen in Deutschland erst ab einem Alter von 14 Jahren gestattet sind. Zivilrechtsverfahren gegen strafmündige Kinder bzw. Jugendliche können in beiden Rechtssystemen angestrengt werden.
Das deutsche Jugendstrafrecht legt fest, dass zunächst einmal gesondert festgestellt werden muss, ob ein junger Mensch reif genug ist, um für Straftaten verantwortlich gemacht werden zu können. Im niederländischen Strafrecht gibt es zu dieser besonderen Regelung der „Verantwortungsreife“ keine Entsprechung. Dieser Unterschied fällt jedoch in der Praxis kaum ins Gewicht, weil auch in Deutschland beinahe immer die strafrechtliche Verantwortlichkeit festgestellt wird.
Erwachsenenstrafrecht auch bei Jugendlichen
In den Niederlanden kann das allgemeine Strafrecht bei 16- bis 17jährigen angewandt werden. Abgesehen von Gründen, die mit dem Charakter und den Umständen des Vergehens zu tun haben, kann die Schwere des Vergehens auch die Anwendung des Strafgesetzbuches rechtfertigen.
Das deutsche Recht unterscheidet sich hiervon. Einerseits muss bei dieser Altersgruppe noch das Jugendstrafrecht angewandt werden. Andererseits wird das Jugendstrafrecht auch bei jungen Erwachsenen angewandt, und zwar unabhängig von der Schwere des Vergehens. Besonders in Fällen von Raub, Vergewaltigung oder Totschlag bei 18- bis 20jährigen wird fast immer das Jugendstrafrecht angewandt.
Ab 18 gilt das allgemeine Strafrecht
Auf jeden Fall scheint die Praxis trotz ähnlicher Gesetzgebung vollständig verschieden gehandhabt zu werden, wenn sie sich auf die Strafgerichtsbarkeit bei 18- bis 20jährigen Jugendlichen bezieht. Während in Deutschland bei dieser Altersgruppe vorwiegend das Jugendstrafrecht Anwendung findet, wird hier in den Niederlanden fast immer das allgemeine Strafrecht angewandt.
Das deutsche Jugendstrafrecht sieht sehr viel höhere Jugendstrafen vor. In den Niederlanden muss aus denselben Gründen auf das allgemeine Strafrecht und härtere Bestrafungen für schwere Vergehen zurückgegriffen werden.
Umwandlung von Jugendstrafen
Nach niederländischem Recht kann eine Jugendstrafe in eine Strafe in das Erwachsenenstrafrecht umgewandelt werden, wenn der Straftäter 18 Jahre alt geworden ist: Die Art der Bestrafung wird dann neu festgelegt. Neben Jugendarreststrafen kommen hier auch noch Gemeinschaftsdienste oder Geldstrafen in Betracht. Eine solche Umwandlung von Jugendstrafen ist in Deutschlands Jugendstrafrecht nicht bekannt, auch bei über 18jährigen werden noch Jugendstrafen verhängt. Aber selbst wenn der Gesetzesbrecher in eine Erwachsenenstrafanstalt verlegt wird, unterliegt er dort nach wie vor seiner Jugendstrafe.
Unterschiede in der Rechtsprechung
Der niederländische Jugendrichter kann Art und Schwere von Strafen oft nach eigenem Ermessen verhängen. Das niederländische Jugendstrafrecht kennt keine solchen Konzepte wie "Schädliche Neigungen" oder "Schwere der Tat". Genauso wenig sind die verschiedenen Sanktionen abgestuft, wie dies unter dem JGG der Fall ist. Der Richter entscheidet, nachdem er den Charakter des Straftäters und die Art des Vergehens berücksichtigt hat, ob er alternative Strafen, Geldstrafen oder Jugendstrafen verhängt.
Im Gegensatz dazu startet das deutsche Strafrecht den Jugendrichter bei der Verhängung bestimmter Strafen für weniger schwere Vergehen mit einem größeren Handlungsrahmen aus. Der Jugendrichter kann eine von vielen der im JGG § 10 aufgeführten Zivilstrafen verhängen (z.B. ein Kontaktverbot zu bestimmten Personen auferlegen, Hausverbot für bestimmte Gebäude erteilen, Verkehrssicherheitstraining verordnen, Schulbesuch oder Arbeitsaufnahme anordnen) oder sich selber eine angemessene Strafe ausdenken.
Gemeinschaftsdienste und Verhaltenstraining
Die niederländische Gerichtsbarkeit hat im Vergleich nur Gemeinschaftsdienste oder "Soziales Verhaltenstraining" als Alternativstrafen zur Verfügung. Der Jugendrichter kann einen Jugendlichen unter Anwendung zivilrechtlicher Regelungen auch in einem Heim unterbringen, sofern dies nötig erscheint. Man muss hier erwähnen, dass der deutsche Täter-Opfer-Ausgleich in den letzten Jahren sogar noch größeren Einfluss erlangt hat. Diese Art der direkten Kommunikation zwischen Täter und Opfer wird in den Niederlanden nicht realisiert. Jungen Menschen werden die Auswirkungen ihres Vergehens für das Opfer nur im Rollenspiel und in Diskussionsrunden von Lernprojekten nahegebracht.
Alternative Strafen werden in den Niederlanden nur dann verhängt, wenn der Jugendliche diese entweder selber vorschlägt oder ihnen zustimmt. Dieses Element der freiwilligen Mitarbeit bei der Straffindung kennt das deutsche Jugendstrafrecht nicht. Gerichtsurteile und Aufgaben können ohne Zustimmung des Jugendlichen verhängt und deren Befolgung unter Androhung von Jugendarrest durchgesetzt werden.
Höchststrafen sehr unterschiedlich
Ein großer Unterschied liegt auch in der Dauer möglicher Jugendstrafen. In den Niederlanden kann als Maximalstrafmaß zwei Jahre Gefängnis verhängt werden, bei unter 16jährigen höchstens ein Jahr. In Deutschland liegt die Höchststrafe im Jugendstrafrecht bei 10 Jahren. Aber in den Niederlanden können schon 16- bis 17jährige nach dem Erwachsenenstrafrecht verurteilt werden, wenn die Schwere des Verbrechens eine höhere Gefängnisstrafe nötig erscheinen lässt. Für jüngere Straftäter gibt es keine solche Möglichkeit. Streng genommen kann die Heimunterbringung maximal bis zu 6 Jahre lang angeordnet werden.
Bewährungsstrafen und Strafen unter Vorbehalt können bei weniger strengen Bedingungen und zu jeder beliebigen Zeit auferlegt werden. Darüber hinaus können Geldstrafen und Heimeinweisungen auch zur Bewährung ausgesetzt werden.
Unterschiede in der Strafverfolgung
Im Vergleich zu Deutschland steht in den Niederlanden eine größere Bandbreite von Strafänderungsmöglichkeiten zur Verfügung. Dies hat seinen Grund auch im Opportunitätsprinzip, das die Strafinstitutionen in den Niederlanden nicht zur Strafverfolgung verpflichtet. In den Niederlanden liegt es im Ermessen der Polizei, bei geringfügigeren Straftaten von einer Strafverfolgung abzusehen. Zum Beispiel kann die Polizei den Jugendlichen verwarnen, eine offizielle Aussprache mit den Eltern in die Wege leiten oder den Fall ad acta legen, ohne dass weitere Schritte unternommen werden.
In den Niederlanden kann diese Strafänderung selbst eine polizeiliche Anordnung ausschalten, mit der sie den jungen Menschen - dessen Einwilligung vorausgesetzt - an ein HALT-Projekt weiter verweisen, wo er/sie dann an einem Programm von maximal 20 Stunden teilnehmen wird. Unter dem Titel „HALT“ (Hart am Limit) wird ein Modellprojekt gefördert, das dem Anstieg des exzessiven Alkoholkonsums bei Jugendlichen begegnet.
Nach Programmabschluss beurteilt die Polizei den Erfolg und kann dann eventuell die Strafverfolgung initiieren. Diese Art der Strafänderung ist unter deutschem Recht nicht erlaubt, obwohl zur Zeit die ersten Schritte zu einem informellen "Verbüßen" von Strafen unternommen werden. Aber nur der Staatsanwalt und der Jugendrichter können das Verfahren einstellen. Eine gute Zusammenarbeit zwischen Polizei und Jugendgerichtshilfe hinsichtlich einer schnellen Ein- und Durchführung von Erziehungsmaßnahmen hat oft den Effekt, dass eine Verfügung zur Aussetzung des Verfahrens nur eine Formalität ist. Kinder im strafmündigen Alter können in den Niederlanden auch an einem HALT-Programm teilnehmen. Die Einwilligung der Eltern muss dafür eingeholt werden.
Die Richtlinien zur Verfahrenseinstellung, die jeweils von den einzelnen deutschen Bundesländern erlassen werden, entsprechen inhaltlich in etwa der Bandbreite der Vergehen, mit denen die HALT-Projekte befasst sind, In den Niederlanden wird eine staatsweite Regelung angewandt, die sicherstellt, dass in allen 64 HALT-Einrichtungen ähnliche Alternativstrafen für eine bestimmte Straftat eingesetzt werden. In Deutschland weisen sowohl die Richtlinien als auch die Diversionspraxis jedes Bundeslandes einige Unterschiede auf (zum Beispiel bezüglich des Grades an Wiedergutmachung, der für Diebstahl als angemessen angesehen wird, oder bezüglich der gestatteten Drogenbesitz-Höchstmenge). In den Niederlanden hat der Staatsanwalt auch ziemlich freie Hand bei der Annullierung von Strafen. Zum Beispiel kann er/sie das Verfahren bei bestimmten Arten von Diebstahl gegen Bezahlung einer Geldstrafe einstellen.
Verfahrensunterschiede
Laienrichter gibt es im niederländischen Recht nicht. Genauso wenig bekannt ist dort der im deutschen Gesetz bewährte Mechanismus zur Beschleunigung von Verfahren. Vor Gericht wird allen Jugendlichen ohne Ausnahme rechtliche Vertretung gewährt. Die Option der Verfahrensänderung existiert nur in Deutschland. Verfahren können eingestellt werden, so dass eine formelle Verurteilung und damit deren negative Auswirkungen auf den Jugendlichen vermieden werden können.
(Autor: Ewald, Quelle: "Kinder- und Jugendkriminalität - Strategien der Prävention und Intervention in Deutschland und den Niederlanden“ von Claudio Morelli und Annemieke Wolthuis, Internationaler Kinderschutzbund, Sektion der Niederlande)