Altersarmut: Die Ministerin ist aufgewacht

Als ViLE-Lübeck für mehr als einem halben Jahr das Projekt „Unserer Jugend droht die Altersarmut“ startete, wollte die Politik noch nicht aktiv werden. Bundessozialministerin Andrea Nahles (SPD) kümmerte sich nicht um unsere Anfrage, sondern übertrug die Antwort an das Referat IVb2 ihres Ministeriums.

Es stellte zu der Frage einer  sicheren Altersrente fest: „Voraussetzung hierfür ist natürlich ein gutes Einkommen während des Erwerbslebens. Entsprechend bildet eine möglichst durchgängige Erwerbsbiografie mit gutem Erwerbseinkommen und entsprechender Altersvorsorge die wirksamste Strategie gegen Altersarmut.“ Das Rentensystem in Deutschland könne es aber nicht leisten, den Verlauf oder die Konditionen eines Erwerbslebens im Nachhinein zu ,,reparieren" oder ,,umzukehren".

Die Kehrtwende der Ministerin

Nach dieser entmutigenden Antwort mit der Tendenz, dass nur eine lückenlose Lebensarbeitszeit bei gutem Verdienst auch eine auskömmliche Rente garantiere, nun eine Kehrwendung der Sozialministerin. Frau Nahles verkündete vor der Presse, ihr Ministerium werde bis zum Jahresende umfassende Reformen vorlegen und sie „mit größter gebotener Sorgfalt“ erarbeiten lassen Die gesetzliche Rentenversicherung sei das zentrale Versprechen des Sozialstaats und auch die junge Generation müsse sich darauf verlassen können.

So kann es gehen, wenn die Umfragewerte der Partei in den Keller gehen. Nahles folgte damit der Devise ihres Vorsitzenden Gabriel: „Das Niveau der gesetzlichen Rente darf nicht weiter sinken, sondern muss auf dem jetzigen Niveau stabilisiert werden“, sagte Gabriel der Funke-Mediengruppe. Wenn die Union als Koalitionspartner dies nicht mitmache, „wird die SPD das spätestens zur Bundestagswahl zur Abstimmung stellen“.

Jetzt sprechen alle über die Rente

Inzwischen schlägt eine öffentliche Diskussion hohe Wellen. Sogar in den politischen Sonntagsprogrammen des Fernsehens ist das Thema angekommen, dem ARD-Presseclub und der großen Abendsendung mit Anne Will. Ein Überblick:

In der CDU sind Stimmen lauter geworden, am Rentenniveau etwas zu ändern. Und  der CSU-Vorsitzende und bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer sagte, die Riester-Rente sei gescheitert und die CSU arbeite an einem eigenen Rentenreform-Konzept.

Fünf Vorschläge für radikale Reformen

Die Wochenzeitung ZEIT hat sich schon einmal Gedanken gemacht. Ein Vorschlag ist, dass ein stärker steuerfinanziertes System versicherungsfremde Leistungen grundsätzlich aus Steuereinnahmen bezahlt. Dazu gehören alle Leistungen, die von der Rentenversicherung getragen werden, obwohl sie eigentlich nicht in ihrem Aufgabenbereich liegen, z. B. Rente mit 63 und Mütterrente. 2010  etwa gab die Rentenversicherung 93 Milliarden Euro für versicherungsfremde Leistungen aus. Vom Bund erhielt sie dafür einen Ausgleich von nur 71 Milliarden Euro.

Ein weiterer Vorschlag empfiehlt, neben einer Grundrente allen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten eine staatlich organisierte Zusatzversicherung anzubieten. Ähnliches wurde unter der Bezeichnung "Deutschland-Rente" von der schwarz-grünen Landesregierung in Hessen bereits vorgelegt.

Vorschlag 3: Man könnte auch Beamte und Selbstständige in die gesetzliche Rentensicherung einbeziehen und die Renten so zu einer Erwerbstätigenversicherung weiterentwickeln.

Dann: Arbeitgebervertreter und Ökonomen fordern, das Renteneintrittsalter weiter zu erhöhen. Der Effekt der Rente mit 67 wäre rasch aufgezehrt.

Letzte Idee: Eine jährliche Zuwanderung von fast einer halben Million Menschen. Die Zahl der über 67-Jährigen wird nach einer Prognose des Statistischen Bundesamtes bis 2040 um 42 Prozent ansteigen, die der Berufstätigen dagegen ohne Zuwanderung um ein Viertel abnehmen. Dieser Rückgang müsse kompensiert werden. Langfristig könne auch die Familienpolitik helfen. So sei durch Maßnahmen wie das Elterngeld  die niedrige Geburtenrate leicht gestiegen.

MONITOR: Rentenversicherung für alle?

Die ARD-Sendung MONITOR berichtete: Durch eine Erwerbstätigenversicherung für alle könnte das Rentenniveau erhöht und gleichzeitig der Anstieg der Beiträge über einen langen Zeitraum gebremst werden. Zu diesem Ergebnis komme eine Langfristprojektion von Prof. Martin Werding von der Ruhr-Universität Bochum für MONITOR.

Auch bei einer Anhebung des Netto-Rentenniveaus vor Steuern auf 52,6 Prozent bis zum Jahr 2025, also auf das Niveau vor der Rentenreform 2001, bliebe der Anstieg der Beiträge demnach deutlich unterhalb dessen, was im aktuellen System zu erwarten wäre. Denn dort wird nach der Langfristprojektion von Prof. Martin Werding das Niveau der Renten in Deutschland sinken und der Beitragssatz steigen müssen, wenn die geburtenstarken Jahrgänge 1955 bis 1970 in Rente gehen. Selbst bei höherer Arbeitsproduktivität durch technischen Fortschritt reichten die bisherigen Rentenreformen nicht aus, um das Rentensystem zu stabilisieren.

Keine Reform mit dieser Regierung

In dieser Legislaturperiode wird es eine Rentenreform nicht geben, sagte Ulrich Schneider, der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Gesamtverbands, in einem Deutschlandfunk-Interview. „Was die Menschen anbelangt, die im Niedriglohnsektor tätig waren, die langzeitarbeitslos waren, die Menschen, die mehrfach arbeitslos waren, die waren bisher noch überhaupt nicht im Blick dieser Koalition.“

Er habe den Eindruck, als werde nun die ganz große Rentenreform ausgerufen, die ja in dieser Koalition überhaupt nicht mehr stattfinden könne.

Riester-Rente ein Programm zur Produktion von Altersarmut?

„Das war ein Programm zur Produktion von Altersarmut und zur Produktion von Versicherungsreichtum“, meinte Schneider. „Die Riester-Rente hat vornehmlich Mitnahmeeffekte, sprich sie wird von denen abgeschlossen, die sie eigentlich nicht zwingend benötigen. Diejenigen, die sie wirklich bräuchten, haben in der Regel kein Geld, um zu sparen, nicht mal zu Riestern, und deswegen werden die Menschen auch gar nicht erreicht. Die Riester-Rente, muss man sagen, ist gefloppt.

Ins offene Messer gerannt

Als die Riester-Rente eingeführt wurde, hätten alle Fachleute gesagt, das könne gar nicht klappen, denn wovon sollten die Menschen denn vorsorgen, wenn sie nichts haben. „Man ist hier ganz sehenden Auges sozusagen ins offene Messer gerannt, weil man wahrscheinlich die Realitäten einfach nicht wahrnehmen wollte.

Weder Betriebsunfall noch Kollateralschaden

„Dass die Altersarmut zunimmt, ist aber weder ein sozialpolitischer Betriebsunfall noch ein unsozialer Kollateralschaden der Globalisierung oder des demografischen Wandels“, schreibt der Politologe Professor Christoph Butterwegge in einem Gastbeitrag für die ZEIT. „ Vielmehr wurde der Arbeitsmarkt über die Maßen dereguliert und der Sozialstaat demontiert, insbesondere die gesetzliche Rentenversicherung.“ Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln und ist Autor mehrerer Bücher zur Sozialen Sicherung.

Die geforderte solidarische Lebensleistungsrente erreiche nur eine kleine Gruppe von Menschen. Die Zugangshürden seien hoch - extrem lange Beitragszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung und Beteiligung an betrieblicher oder privater Altersvorsorge. Daher blieben diejenigen, die eine Zusatzrente am dringendsten brauchten, außen vor: Langzeit- und Dauerarbeitslose, Erwerbsgeminderte und Solo-Selbstständige.

Und selbst Anspruchsberechtigte wären nicht vor Armut im Alter geschützt. Denn von dem Rentenzuschuss müssten noch Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung bezahlt werden. Netto blieben den Lebensleistungsrentnern nur ein paar Euro mehr als die Grundsicherung.

Reformen zurücknehmen

Um die bereits bestehende Altersarmut zu reduzieren und zu verhindern, dass soziale Ungleichheit zunimmt, fordert Professor Butterwegge eine Rücknahme der Rentenreformen von 2001 und 2004. Man müsste die Kürzungsfaktoren in der jetzigen Rentenformel streichen. Auch die Teilprivatisierung der Altersvorsorge, zu der die Riester-Rente gehört,  sollte baldmöglichst zurückgenommen werden. Stattdessen sollte die gesetzliche Rentenversicherung gestärkt werden, weil sie umlagefinanziert und nicht von den Unwägbarkeiten der Kapitalmärkte abhängig ist. Praktisch favorisiert Butterwegge die Rückkehr zur gesetzlichen Rentenversicherung.

Frau Merkel muss handeln

Viele Jüngere werden es im Alter schwer haben. "Wenn nichts passiert, werden viele Millionen Deutsche im Alter dramatisch verarmen", wird  Klaus Ernst, stellvertretender Vorsitzender der Linken-Bundestagsfraktion, in einem Beitrag der „Huffington Post“ zitiert, den FOCUS NEWSLETTER veröffentlichte. Für ihn sei klar: „Frau Merkel muss jetzt dringend handeln!“

Um eine Rente über dem Hartz-IV-Niveau zu bekommen, müsste ein Arbeitnehmer demnach 40 Jahre lang ununterbrochen mindestens 2100 Euro brutto im Monat verdienen, heißt es in dem Bericht.

Mangelhafte Vorsorgemöglichkeiten

Der Generalsekretär der Caritas Georg Cremer kritisierte in einem Interview von Deutschlandradio Kultur, dass Angebote der zusätzlichen Altersvorsorge wie etwa die Riester-Rente auf den Mittelstand und nicht auf die Niedrig- und Niedrigstverdiener zugeschnitten seien. Diese hätten gar nichts von der Riester-Rente:  

Cremer wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass staatlicherseits auch mehr für den Ausbau der Grundsicherung getan werden müsse. Jemand der für das Alter vorsorge, später aber eine Rente unterhalb der Grundsicherung erhalte, dem werde alles wieder weggenommen.Dieser Konstruktionsfehler müsse dringend behoben werden.

Rentenreform als Wahlkampfthema

Die Regierungsparteien bringen eine Rentenreform als Wahlkampfthema an den Start befürchtet der Rentenexperte der Berliner Zeitung Karl Doemens. Horst Seehofer spreche von einer „großen Rentenreform“, Sigmar Gabriel fordere ein stabiles Rentenniveau, doch die Möglichkeiten der Regierung seien begrenzt.

Eine Einbeziehung auch von Selbstständigen und künftigen Beamten in die gesetzliche Rentenversicherung wäre die größtmögliche Reform, meint der Autor. Sozialpolitisch gäbe es dafür gute Gründe, denn gesetzliche Rente und Pensionen entwickeln sich krass auseinander. Aber es sei wenig wahrscheinlich, dass eine Regierung diesen Schritt wagt.

Verbesserungen für Zielgruppen

Vor allem Alleinerziehende, Solo-Selbstständige, Erwerbsunfähige und Langzeitarbeitslose sind von Altersarmut betroffen, heißt es in dem Bericht. Der renommierte Ex-Rentenkassen-Chef Franz Ruland plädiere  deshalb dafür, zielgerichtet Verbesserungen für diese Personengruppe anzugehen: „Hier besteht seit Langem dringendster Handlungsbedarf – geschehen ist fast nichts.“

Union legte Reformvorschläge vor

Die CDU/CSU-Fraktion im Bundestag hat am 15. April ihre Reformvorschläge vorgestellt. Zugleich veröffentlichten das Arbeits- und das Bundesfinanzministerium Gutachten zur betrieblichen Altersvorsorge, wie die Süddeutsche Zeitung berichtet.

Werden die neuen Ideen umgesetzt, dürften vor allem Geringverdiener davon profitieren. Es reiche nicht aus, das Rentenniveau vor Steuern zu stabilisieren, wird der CDU-Sozialexperte Peter Weiß zitiert. Die Union schlägt nun vor, Arbeitgeber dazu zu verpflichten, jedem Arbeitnehmer per Arbeitsvertrag ein Angebot für Betriebsrenten zu unterbreiten.

Was tatsächlich Gesetz wird, dürfte vor allem von Schäuble abhängen, meint die SZ, denn ein neues Fördermodell koste ja Steuergeld. Das Finanzministerium habe jedenfalls schon mal verlauten, dass es Bedenken gegen eine Zuschußpflicht des Arbeitgebers und gegen neue Steuervorteile für Kleinbetriebe habe.

Horst (17.04.2016, Quellen: Spiegel, FAZ, ZEIT, Deutschlandfunk, Monitor, Deutschlandradio Kultur, FOCUS, Berliner Zeitung, SZ)

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