Auswandererlieder
                             von Roswitha Ludwig
Sie gehören zur politischen Zweckdichtung. Oft enthalten sie sogenannte Push- und Pull - Faktoren, d.h. Klagen über die Heimat und Verheißungen für die Zielgegenden. Außerdem thematisieren sie Empfindungen beim Abschiednehmen.

Verwendung
Informationen über Auswanderungsländer erreichten die Menschen bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts vorwiegend über Wort und Text, denn über Kartenmaterial und Bilder verfügten längst nicht alle Interessierten. Gereimte Sprache prägt sich besonders leicht ein. Gesungen wurden die Auswandererlieder nach bekannten Melodien. Gemeinsames Sprechen und Singen stiftet Gemeinschaft. Gerade im gemeinsamen Gesang kann eine verbindende Gemütslage erfahren werden von Schmerz bis Freude.
Was jeder im Gedächtnis hat, ist stets abrufbar und unterwegs keine Gepäcklast. Ein Lied, im richtigen Moment angestimmt, stärkt das Gemeinschaftsgefühl. Man denke nur, wie hilfreich aufmunternder Gesang bei einer stürmischen und strapaziösen Schifffahrt sein konnte. Auch zum Verabschieden von Auswanderern gehörte Musik, oft  mit Gesang. Und wer einen fremden Sprachraum erreicht hat, singt gerne gemeinsam in seiner vertrauten Sprache.

Werbende Inhalte
Nach Siedlungsgebieten soll nicht unterschieden werden. Von „trockener Auswanderung" spricht man innerhalb Europas und von „nasser Auswanderung", wenn ein anderer Erdteil das Ziel war. Seit dem Mittelalter veranlassten Herrscher der zu besiedelnden Gebiete Werbeaktionen. Zar Alexander von Russland erließ z.B. 1804 ein Einwanderungsdekret, das für die Niederlassung im  Schwarzmeergebiet warb. Selbst auf Märkten konnte man den Werbern begegnen mit Versen wie diesen:
„Wer will mit uns nach Russland ziehn?
Russland ist eine schöne Gegend
Russland ist ein schöner Ort
Grund und Boden auf uns wartet
Freies Land wir finden dort...
Lasst uns gleich auf Russland ziehen
Denn es ist schon hohe Zeit
Weil es ist schon da der Frühling
Und der Sommer nicht mehr weit."
In weiteren Versen erfährt man: An der Grenze würden die Einwanderer Pass und Reisegeld erhalten, sie wären vom Militärdienst befreit, ebenso erwarte sie eine zehnjährige Abgaben- und Steuerfreiheit sowie Häuser und Felder.

Vom Kaplied zum Amerikalied
Eine über Generationen tradierte Vorlage eines Auswandererliedes lieferte Friedrich Christoph Daniel Schubart (1739-1791). Dieser schwäbische Dichter verbrachte zehn Jahre seines Lebens auf dem Hohenasperg als politischer Gefangener seines Herzogs Carl Eugen. Hier verfasste er 1787 das Kaplied, in dem er den Verkauf von württembergischen Soldaten an Holland für den Krieg in Südafrika thematisierte. Inhaltlicher Schwerpunkt ist die zutiefst menschliche Seite der Trennung, unabhängig von der aktuellen Situation. Umdichtungen auf Amerika gab es in vielen Versionen, eine beginnt so:
„Auf, auf ihr Brüder und seyd stark,
Der Abschiedstag ist da!
Schwer liegt er auf der Seele, schwer!
Wir sollen über Land und Meer
Fort nach Amerika!
Ein dichter Kreis von Lieben steht,
Ihr Brüder, um uns her,
Uns knüpft so manches theure Band
An unser deutsches Vaterland,
Drum fällt der Abschied schwer..."  (S. 292)
Der Situation der Auswanderer entsprachen auch die Trost spendenden Strophen und die Aussicht, am Ziel als Deutsche zu leben.

Fort von Unterdrückung

1844 dichtete Hoffmann von Fallersleben: „Hier am Mississippi". Mit der Auswanderung kann die drückende Unfreiheit überwunden werden: „Brüder, lasst uns froh jetzt das Glas erheben, denn wir können frei nur im Ausland leben...
„Freies Denken gilt so wie freies Sprechen
nirgend, nirgend hier für ein Staatsverbrechen.
Adel, Ordenskram, Titel, Rang und Stände
Und solch dummes Zeug hat allhie ein Ende.
Hier darf nie ein Pfaff mit der Höll uns plagen,
nie ein Jesuit uns die Ruh verjagen
Hier am Mississippi..."
Nach der gescheiterten Revolution 1848/49 wanderten viele enttäuschte Bürger aus.
Die Flucht nach Amerika rettete manchen gesuchten, angeklagten oder verurteilten Revolutionär, z.B. Carl Schurz oder Friedrich Hecker.

Schlaraffenland-Versprechungen

Utopien eines besseren Lebens und Träume gehören zu den Menschen. In religiöser Hinsicht kennt man die Vorstellungen des Paradieses. Profan lockt genussreiches Leben im Schlaraffenland; je größer die Not ist, desto prächtiger die Ausmalung. Fantasie und Fabulierfreude gestalten die Details, klein ist der Schritt zur Parodie. Wer an der Auswanderung verdiente, z..B. Reedereien setzte natürlich gerne verführerische Versprechungen in Umlauf. Beispiele:
„Amerika, du warmes Land,
Du bist der ganzen Welt bekannt;
Da wächst der Klee drei Ellen hoch, da gibt es Butter und Fleisch genug..da fließt  der Wein zum Fenster rein. Kartoffeln gibt´s wie Marzipan" usw.
Oder in einer Russlandwerbung heißt es:
„Kürbis` wachsen auf den Feldern, sind so groß fast wie ein Haus, sät man Körner in die Erde, wachsen siebenfach sie draus." (S. 266)

Warnung in Gedichten
Der erwähnte Hoffmann von Fallersleben warnte um 1871 vor unbedachter Auswanderung. In dem Gedicht „Die Auswanderer" meinte er, dass Fleiß und Einsatz auch in der Alten Welt das Auskommen sichern könnten. Friedrich Rückert (1788-1866) schreibt in einem Gedicht in Anlehnung an Psalm 37,3: „Bleibet im Lande und nähret euch redlich, rücket zusammen und füget euch fein..." Daraus wurde ein Lied:
„Freunde lasst euch dringend sagen
Bleibt in eurem Heimatsland,
und ertragt mit Muth die Plagen,
Die euch einmal schon bekannt.
Glaubt mir in Amerika
sind noch größ´re Leiden da.
Und wer Lust zur Arbeit hat,
ißt sich auch zu Hause satt..." (S. 446)
Zum Abraten vor Auswanderungen führte sicherlich die Kunde von gescheiterten Vorhaben. Doch im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts vollzogen sich wichtige politische und wirtschaftliche Veränderungen: Schritte zur Industrialisierung und zur Überwindung der Kleinstaaterei in Deutschland.

Jeweilige Zeitzeugnisse
Zu Auswanderungszeiten gehörten Gedichte und Lieder mit dieser Thematik. Einerseits dienten sie der politischen Propaganda mit der Tendenz des Werbens oder des Abratens. Ihre oft mündliche Verbreitung in verschiedenen Versionen verweist darauf, dass sie dem kollektiven Bewusstsein der Zeit entsprachen. Sie sind Zeugnisse einer medienärmeren Zeit, in der Flugblätter, z.T. auch Zeitungen die Informationen lieferten. Hinzu kam die direkte Kommunikation oder der Vortrag. Von den Ausgewanderten wurde diese Form der Dichtung über Generationen bewahrt als muttersprachliche Texte in anderssprachiger Umgebung. Das Auswandererlied „Die Schiffe nach Amerika" gibt es in türkischer Bearbeitung: „Die Schiffe nach Deutschland - Alemanya gemileri". Das zeigt, dass diese Dichtungsform lebendig geblieben ist.

Links und Literatur:

Wissenschaftliche Untersuchung mit vielen Beispielen:
Hailer-Schmidt, Annette: Hier können wir ja nicht mehr leben, Marburg 2004.
Hieraus sind Zitate von Gedichten entnommen.

Zahlreiche sorgfältig übertragene Texte von Gedichten und Liedern

Texte von Auswandererliedern aus dem deutschen Volksliedarchiv

Hörproben der Gruppe „Grenzgänger", z.B. „Hier am Mississippi"
 

 
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