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Interview mit einer jüdischen Emigrantin
                                    von Lore Wagener
„Die Nazis gedachten, es böse mit mir zu machen, Gott aber gedachte es gut zu machen“, schrieb Professor Schulz 1946 aus Oxford. Wir baten seine Tochter Dorli, uns von den persönlichen Eindrücken ihrer Kindheit zu berichten.

Vorstellung der Interviewpartnerin Dorli Meek (DM)
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DM 2008 in Deutschland


Der Vater von Dorli, der Jurist und Rechtshistoriker Fritz Schulz, hatte 1933 einen Lehrstuhl an der Universität Berlin inne. Nach der Machtergreifung Hitlers 1933 geriet er wegen seiner halbjüdischen Abstammung und seiner politischen Einstellung in das Visier der Nazis. Als er sich weigerte, sich von seiner jüdischen Frau zu trennen, wurde er 1934 zur Einwilligung in seine vorzeitige Pensionierung genötigt. 1939 konnte er aus Deutschland fliehen. Weitere Einzelheiten enthalten die Links.
Seine jüngste Tochter Dorli, die zwischen ihrem sechsten und zwölften Lebensjahr die beginnende Judenverfolgung persönlich erlebte, ist 1939 schon vor ihren Eltern nach England ausgewandert. Sie lebt seither in England und ist englische Staatsbürgerin geworden. Als sie 2008 in Deutschland zu Besuch war, konnten wir sie zu ihren Erlebnissen während der Nazi-Zeit befragen.

Lerncafé (LC)
"Dorli, was hat Sie letztlich bewogen, mit uns über Ihre belastenden Erlebnisse zu sprechen?"

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Professor Dr. Fritz Schulz

DM: “Es ist für Ihre Leser, die zum Teil die Jahre von 1933 bis 1945 nur aus Geschichtsbüchern kennen, vielleicht interessant, etwas über das persönliche Schicksal eines der vielen Opfer des Dritten Reiches zu erfahren. Es wird ja nicht so sehr lange dauern, bis unsere Stimmen nicht mehr da sind. Dabei möchte ich aber sofort betonen, dass ich das große Glück hatte, nur ganz am Rande des Holocausts zu stehen, und dass ich, trotz allem, ein Leben mit viel Glück und Befriedigung verbracht habe. Insofern stimme ich auch dem Ausspruch meines Vaters zu, den Sie zitiert haben. Er war übrigens ein sehr gläubiger Mensch und Mitglied in Pastor Niemöllers Dahlemer Gemeinde der "Bekennenden Kirche".

LC:„ Was veränderte sich für das Schulkind Dorli nach 1933?“
DM: “Es gab schon immer eine antijüdische Propaganda. Bis zu dieser Zeit dachte ich, dass das eine Frage der Religion sei. Meine Mutter, eine Rabbinertochter, stammte aus einer großen Familie. So hatte ich viele Verwandte, die - im Gegensatz zu meiner evangelischen Mutter - nach ihrem überkommenen Glauben Pessach und Chanukkah feierten. Sie waren also, wie ich dachte, jüdisch. Wir aber feierten Ostern und Weihnachten, waren also Christen. Ein Bruder meines Vaters war im ersten Weltkrieg für Deutschland gefallen, der andere war auch Soldat gewesen, ebenso wie die drei Brüder meiner Mutter. Es war uns - wie auch meinen Verwandten - völlig selbstverständlich, dass wir Deutsche waren. Nun musste ich lernen, dass das nicht eine Frage des Glaubens sondern der Herkunft sei. Wegen meiner Abstammung galt ich nach den neuen Nazi-Gesetzen als jüdisch und wurde - wie die übrige jüdische Bevölkerung - von der NS-Führung nicht mehr als Teil des deutschen Volkes betrachtet.
 
LC: „Haben Sie weitere Diskriminierung erfahren?“

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DM im Winter 1938

DM: “Die erste Erfahrung war, dass ich von den Mitschülerinnen nicht mehr eingeladen wurde. Wenn ich sagte, dass ich jüdische Grosseltern hätte, wurde die Einladung nicht wiederholt.
Als ich neun Jahre war, mussten wir in einen anderen Stadtteil umziehen. Ich hatte das Pech, in der neuen Schule die einzige jüdische Schülerin zu sein und eine stramme Nazi-Lehrerin zu bekommen. Ich saß allein in einer Ecke, durfte am Unterricht nicht teilnehmen und wurde von Zeit zu Zeit seelisch und körperlich von der Lehrerin misshandelt. Aber zum Glück kam ich ein Jahr später ins Gymnasium, wo manche der Lehrer sich noch sehr menschlich mir gegenüber verhielten - bis zur Kristallnacht im November 1938. Am Tag danach wurde ich in aller Öffentlichkeit aus der Schule gewiesen. Es war peinlich, und ich verstand es nicht. Jüdische Kinder durften, soviel ich weiß, keine deutschen Schulen mehr besuchen. Als ich an diesem Tag nach Hause kam, fasste meine Mutter wohl den Entschluss, mich fortzuschicken.“

LC „Wie erging es Ihrer Familie?“
DM: “Als Kind merkte ich, dass alles bergab ging. Die Eltern schienen immer besorgt zu sein. Mein Vater durfte ja seit Mitte 1934 seine geliebte Universität nicht mehr betreten. Er, der früher ein sehr fröhlicher Mensch war, erlitt eine schwere Depression. Ich sah ihn oft in einer Ecke sitzen und vor sich hinstarren. Meine drei älteren Geschwister studierten bereits in England und Amerika und blieben auch dort. Dafür hatte meine Mutter gesorgt. Sie war sehr tatkräftig; sie hatte, als eine der ersten Frauen in Deutschland, Medizin studiert und die Examina bestanden. Nun plante sie meine Ausreise. In der U-Bahn entdeckte sie einen jungen Mann, der eine Londoner Zeitung las. Sie sprach ihn an und erfuhr, mit welchem Schiff er wieder zurückreisen wollte. Sie erreichte auch, dass er ihr zusagte, aus der Ferne auf mich aufzupassen, falls ich das gleiche Schiff nehmen würde. Wie sie es dann schaffte, die „richtige“ Passage und englische Pflegeeltern für mich zu bekommen, war wohl ein Meisterstück.“

LC: „Wie verlief Ihre Ausreise?“
DM: „Mitte Januar 1939 schon war es mir möglich, zu den englischen Pflegeeltern zu reisen. Ich wurde auf die Bahn gesetzt, ausgestattet mit meinem Pass mit dem großen roten „J“, der mir um den Hals hing. Jeder konnte also sofort sehen, wer ich war. Die Zoll- und Passkontrollen im Hamburger Hafen gehören zu den schlimmsten Erinnerungen meines Lebens. Ich möchte darüber nicht sprechen. Obwohl wir schon sehr früh da waren, konnte ich erst um 13 Uhr das große Schiff betreten. Dort herrschte eine ganz andere Atmosphäre. Wie zum Ausgleich servierten mir freundliche Kellner noch ein Mittagessen. In meiner sehr kindlichen Art wählte ich nach eigenem Geschmack eine Portion Hühnchen und drei große Portionen Erdbeereis. Das erschien mir angemessen, um meinen Abschied von den Nazis zu „feiern“. Auf die hatte ich nach meinen Erlebnissen eine große Wut und dachte:„Ja, wenn ihr mich nicht wollt, dann will ich euch auch nicht. Ich werde jetzt Engländerin und werde mit euch nie etwas zu tun haben.“

LC: „Wie war die Reise nach England?“
DM: „Entgegen meinen Befürchtungen wurde ich nicht seekrank. Am Nachmittag spielte ich mit meinem englischen Beschützer aus der U-Bahn Tischtennis und genoss abends ein sehr erwachsenes Diner mit ihm. Als ich in Southampton ankam, reihte ich mich in die lange Schlange vor dem Einwanderungsbüro ein. Meine Eltern hatten mir zwar erklärt, dass niemand in England mich als Untermenschen ansehen würde, aber ich hatte mich so daran gewöhnt, dass ich es kaum glauben konnte, als ein Polizist auf mich zukam, mich anlächelte, meine Koffer nahm, mich zur Passkontrolle führte und dem Beamten sagte: „I have a young lady for you.“ Und der Beamte war genauso freundlich, schüttelte mir die Hand und wünschte mir alles Gute im neuen Land - als ob das „J“ plötzlich unsichtbar geworden wäre. Auch später in Oxford waren alle Leute nur freundlich zu mir. Es ist dem Leser heutzutage wahrscheinlich schwer zu verstehen, wie überwältigend das für mich war. Kein Wunder, dass ich mich in England verliebt habe.“

LC „Wie war der Anfang in Oxford?“
DM: „In Oxford empfing mich meine große Schwester mit den Worten: „Du bist hier eine Vertreterin der guten Deutschen. Ich erwarte, dass du dich tadellos benimmst.“ Na ja, bei der freundlichen Aufnahme fiel das nicht schwer.
Ich musste mich dann in Oxford bei der Polizei melden, einer Behörde, vor der ich mich aufgrund meiner Erfahrungen fürchtete. Ich wollte dort auch den Vornamen Sara wieder loswerden. Für die Nazis hießen nämlich alle jüdischen Frauen zwangsweise Sara und das schrieben sie auch in die Pässe. Als ich dem Polizisten meine Papiere vorlegte und versuchte, ihm mein Anliegen zu erklären, regte ich mich so auf, dass mir die Tränen kamen. Da verschwand der Beamte, kam aber bald mit einer Tafel Schokolade wieder und fragte, ob ich einen Dolmetscher wolle. Aber ich sagte: „Ich spreche Englisch, aber sprechen sie bitte langsam.“ Da lachte er, und als er mein Anliegen verstanden hatte, sagte er: „Ja, wenn du nicht Sara heißt, dann schreiben wir das auch nicht.“ Da war ich sehr erfreut.“

LC: „Wie erlebten Sie die Kriegszeit in England?“

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DM im Sommer 1939

DM: „Von 1939 bis 1945 war ich auf der Schule in England - für mich eine sehr glückliche Zeit. Meinen Eltern war es noch vor Kriegsanfang gelungen, nach England zu kommen. Wir hatten zwar sehr wenig Geld, aber wir waren frei. In dieser Zeit erlitt ich keinerlei Diskriminierung. Dass ich drei jüdische Grosseltern hatte, interessierte einfach niemanden. Auch die Tatsache, dass ich offiziell ein Enemy-Alien war, also ein Feind, schien völlig unwichtig zu sein. Die seelischen Wunden, die ich in Deutschland erlitten hatte, heilten langsam. Die Liebe, mit der ich als Zwölfjährige empfangen und behandelt wurde in diesen Jahren, bleibt mir unvergesslich. Ich sah mich als englische Patriotin. Mein Bruder war in der amerikanischen und meine Schwester in der englischen Armee. Ich betrachtete den Krieg als auch unseren Krieg, als einen Kampf zwischen Zivilisation und Barbarei. Erst sehr viel später habe ich angefangen, die Nazizeit aus einer historischen Perspektive zu sehen und Abstand zu gewinnen.“

LC: „Dorli, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.“

Links
Fritz Schulz, Prinzipien des Römischen Rechts; Rezension
Entwurzelte Juristen
Ausgrenzung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung
Staat und Namensänderung
 
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