von Lore Wagener Landgraf Carl von Hessen-Kassel versuchte, die
Folgen des 30jährigen Krieges rasch zu überwinden. Er verschaffte sich Gelder,
indem er Soldaten an fremde Mächte auslieh, gewährte aber auch den Hugenotten
Asyl, mit denen er Hessens Wüstungen wieder aufbaute.
Hugenotten
Bartholomäusnacht; Quelle Wikipedia gemeinfrei
In Südfrankreich hatten sich etwa seit 1540 Anhänger des Reformators Calvin zu
der protestantischen Glaubensgemeinschaft der Hugenotten bekannt. Um 1560
gehörten bereits 10 Prozent der Franzosen der neuen Konfession an. "Hugenotte"
war zunächst ein Spottname und ließsich
mit „Eidgenosse" übersetzen. Da die Lehren Calvins sich von der katholischen
Kirche ausdrücklich abwandten, fühlte sich die französische Zentralgewalt sehr
beunruhigt, denn die katholischen klerikalen Strukturen waren für ihre
Herrschaft eine wichtige Stütze. Alle französischen Monarchen dieser Zeit
versuchten, durch harte Strafen, wie Hinrichtungen und Galeerenstrafen oder
sonstige Schikanen, die Protestanten wieder in den Schoß der katholischen
Kirche zu zwingen. Es gab die Hugenottenkriege und 1572 die berüchtigte
Bartholomäusnacht, die den hugenottischen Adel fast auslöschte.
Verfolgung
Das Edikt von Nantes brachte ab 1598 den Protestanten etwas religiöse Toleranz,
doch Ludwig XIV. widerrief es 1685 „um die Erinnerung an die Unruhen, die
Verwirrung und die Leiden, welche der Fortschritt dieser falschen Religion in
Unserem Königreiche verursacht hat...vollständig auszulöschen". Und er setzte
dies konsequent um. Wer nach 1685 als Protestant enttarnt wurde, dem drohten
Galeerenstrafe oder Verbrennung. In den Dörfern der Cevennen begannen die
Dragonaden. Die Familien bekamen eine Überzahl an Einquartierung und die
Dragoner den Befehl, sich rüpelhaft zu benehmen. Sie plünderten, drangen in die
Privaträume vor und belästigten die Frauen bis hin zur Vergewaltigung. Das
Bibellesen wurde verboten, und die Dragoner hatten Verstöße zu melden. Als man
sich dennoch nicht einschüchtern ließ, brannten in den Dörfern über 400 Häuser.
Den Hugenotten blieben nur die formale Rückkehr zum Katholizismus oder die
Flucht, die aber durch Edikt verboten - und damit gefährlich - war.
Fluchtwellen
Viele Hugenotten flüchteten 1685 zu ihren Glaubensbrüdern nach Piemont oder in
die Schweiz und von da aus in alle Welt. Von den insgesamt 200 000 Flüchtlingen
nahm Hessen-Kassel 4000 auf, und zwar in drei Schüben. Der erste Schub kam nach
1685, der zweite wurde 1699 durch die Vertreibung der Waldenser aus Piemont
ausgelöst und der dritte kam zwischen 1720 und 1729. Die Einwanderer des
zweiten Schubs nach Hessen-Kassel waren meist hugenottische Asylanten aus der
französischen Schweiz oder vertriebene Waldenser aus Piemont. Letztere gehörten
einer um 1200 von ihrem Namenspatron Petrus Valdes gegründeten reformatorischen
Laienbewegung an. Da die Flüchtlingswelle, die 1699 aus den Alpentälern von
Piemont kam, die Schweizer zu überfordern drohte, baten diese die deutschen
Fürsten um rasche Hilfe. Hessen-Kassel ließ daraufhin vier Flüchtlings-Brigaden
für den zweiten Schub zusammenstellen, die jeweils von einem hugenottischen
Anführer an ihre Zielorte geleitet wurden
Ein Einzelschicksal
Einer der Trupps von 1699, bestehend aus 33 Familien, wurde von dem Hugenotten
Pierre Maigre nach Hofgeismar geleitet. Mit ihm wanderte auch ein Vorfahre
meiner Urgroßmutter Carrière nach Hessen-Kassel ein. Ich kann also ein
praktisches Beispiel aus der Familienchronik vorstellen:
Am Marktplatz von Vergéze
Unser Pierre Carriére, später Stammvater von Familien in Deutschland, Holland
und Nordamerika, wurde etwa 1657 in Vergéze, am Rande der Cevennen, geboren. Er
war Maitre Tailleur, heiratete 1682 in Vergéze Magdeleine Garnier und bekam
1683 das erste Kind. Dann findet man 1686 im französischen Grenoble einen
katholischen Taufeintrag für seine zweite Tochter. Die katholische Taufe machte
vermutlich seine Flucht aus Vergéze unauffällig. Später gab es im
schweizerischen Vevey zwischen 1689 und 1698 sieben protestantische Taufen
seiner Kinder. Noch 1698 wurden Zwillinge getauft, von denen ein Kind starb.
Das andere, Paul Louis, überstand die Flucht und wurde das nächste Glied in
unserer Ahnenkette.
Wanderung nach Hessen
Im Museum von Vergéze
Unser Ahnherr erkannte, dass die Schweiz auf Dauer seine Familie nicht
beherbergen konnte und wollte. Die Einheimischen murrten, weil sie höhere
Steuern aufbringen mussten und die Konkurrenz der eingewanderten Handwerker
fürchteten. So schloss sich unser Ahnherr der oben genannten Auswanderergruppe
an. Pierre Maigre führte im Frühsommer 1699 175 Personen vom Genfer See -
vermutlich über Bern - zur Aare, dann weiter an diesem Fluss entlang nach Brugg
und von dort mit Schiffen nach Basel. In Basel muss unsere Familie in
schlechtem Zustand angekommen sein, denn sie erhielt dort eine Sonderzahlung.
Es standen auch nur noch sieben ihrer Kinder auf den Listen. Mit dem Schiff war
es dann von Basel nur eine Tagesreise nach Gernsheim. Von dort sandte man ein
Dankschreiben nach Basel und setzte auf dem Landweg die Reise zur schon
teilweise hugenottisch besiedelten Ackerbürgerstadt Hofgeismar fort. Dort kam
man nach einem Umweg drei Wochen später an.
Zwischenstation
Wie die Einwanderer in Hofgeismar untergebracht waren, ist nicht bekannt. Sie
konnten sich dort vermutlich von den Strapazen der Flucht etwas erholen. Eine
solche Reise mit sieben teilweise noch sehr kleinen Kindern ist gewiss eine
bewundernswerte Leistung unserer Ahnfrau. Aber es dürfte damals viele Mütter
gegeben haben, die Ähnliches schafften. Und auch die logistische Leistung des
Reisemarschalls Maigre verdient alle Achtung. Wie beschwerlich die Reise war,
zeigt ein Vorfall, dessen glücklicher Ausgang im neuen Heimatdorf Kelze
alljährlich mit dem Mayencefest gefeiert wird. Die Gruppe Maigre hatte auf
ihrer Reise durch die Schweiz ein dreijähriges Mädchen verloren. Zum Glück
nahmen sich andere Flüchtlinge des Kindes an, und als sie durch Zufall nach
Kelze kamen, gab es ein glückliches Wiederfinden. Auf der interessanten
Homepage des „Hugenottendorfes Kelze" wird ausführlich über das Fest berichtet,
in dessen Mittelpunkt immer ein dreijähriges Mädchen steht.
Die Gründung von Kelze
Dorfkirche von Kelze; Quelle Wikipedia gemeinfrei
Pierre Maigre und seine Gruppe einigten sich mit den örtlichen Autoritäten auf
die Besiedlung der Wüstung Oberkelze, 4 Kilometer von Hofgeismar entfernt. Die
lag schon seit dem späten Mittelalter wüst, hatte aber genug Trinkwasser. Man
taufte den neuen Ort Kelze. Das Land wurde in 40 gleich große „Portionen"
aufgeteilt und an die Siedler vergeben. Wie zu erwarten, gab es nun schwere
körperliche Arbeit, doch 1701 hatten die tatkräftigen Siedler bereits 14 Häuser
errichtet. Ein verbindlicher Bauplan schrieb einen kreuzförmigen Grundriss des
Dorfes vor: zwei Straßen, die sich kreuzten, im Mittelpunkt Kirche und Schule.
Der Landgraf gewährte finanzielle Unterstützungen. Die Parzellen erwiesen sich
aber als zu klein. Deshalb mussten einige Siedler weiterziehen. Mit ihrem
Anteil wurden die verbleibenden Parzellen vergrößert. Aber es war dennoch
schwer, dem kargen Boden den Lebensunterhalt abzuringen. Noch 1721 musste man
um Befreiung von den Abgaben bitten.
Die Integration
Bei einer Volkszählung gab es 1779 in Kelze 131 Personen in 36 Haushalten,
davon waren 22 Haushalte rein französisch, in 8 weiteren war bereits ein
Ehepartner deutscher Abstammung. Es gab also in Hessen-Kassel kein Verbot von
„Mischehen". Den Verlauf einer Integration kann ich am praktischen - wenn auch
nicht exemplarischen - Beispiel unserer Familie aufzeigen: Unser „Schneider aus
Vergéze" lebte noch 28 Jahre in Kelze und starb mit 71 Jahren. Seine Frau
verstarb zehn Jahre früher. Ihr achtes Kind, der schon erwähnte Paul Louis,
wurde Goldschmied, heiratete eine Hugenottin, hatte 9 Kinder und starb in
Hofgeismar. Dessen dritter Sohn, Jean André, heiratete eine Deutsche und wurde
Bauer in Greifenthal. Er hatte 6 Kinder. Das erste Kind, Elias, war Rentamtmann
in Griedel und hatte 7 Kinder. Der 7. Sohn, Wilhelm Gottlieb, wurde Rentamtmann
und Bücherrevisor in Wetzlar. Er hatte 7 Kinder, von denen das älteste
Kunstprofessor und das jüngste meine Urgroßmutter Johanna war.
Freie Religionsausübung
Prediger-Denkmal; Quelle Wikipedia gemeinfrei
Besonders wichtig für die frommen Protestanten war die freie Religionsausübung,
die ihnen 1685 mit der landgräflichen „Freiheits-Concession" zugesichert war.
Der Landgraf stiftete auch die Kelzer Dorfkirche. Bis 1822 wurde die
französisch-reformierte Gemeinde von französischen Pfarrern betreut. Dann
übernahmen deutsche Pfarrer aus der evangelischen Muttergemeinde Hofgeismar die
kirchlichen Aufgaben.
Wenn die Réfugiés sich auch integrierten, so vergaßen sie doch ihre alten
Bräuche nicht. Das wird an den vielen Vereinen und Institutionen sichtbar, die
sie auch heute noch pflegen. Auch im Hugenottendorf Kelze gibt es französische
Bräuche und einenHeimatverein. In Frankreich gab erst Ludwig XVI. mit dem Toleranzedikt von 1787 den
Protestanten einige Glaubensfreiheit.Doch
in Vergéze hat sich trotz aller Verfolgung der Protestantismus erhalten. Unser
Familienchronist berichtete nach seinen Besuchen 1979 und 1982, dass er dort
noch viele Protestanten angetroffen habe. Links Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland und Oberdeutschland