Ehrenämter – ein Erfahrungsbericht
                             von H.J., Name ist der Redaktion bekannt
Nach meinem ausschließlich von der Schule bestimmten Berufsleben erfahre ich im Ruhestand eine Welt mit völlig neuen menschlichen Facetten. Darum engagiere ich mich ehrenamtlich - es bereichert auch mein eigenes Dasein.

Ruhestand

Als ich im Jahr 2004 krankheitsbedingt aus meinem schulischen Leben herausgerissen und vorzeitig in den Ruhestand versetzt wurde, musste ich mich ganz neu organisieren. Sofort habe ich mir einen „eigenen Stundenplan" gesteckt, um nicht in jenes sprichwörtliche schwarze Loch zu fallen. Eigentlich wollte ich all das in Angriff nehmen, was mich schon immer interessiert, wozu ich aber neben dem Unterricht keine Zeit gehabt hatte.
Doch beim Oberschulamt musste ich unterschreiben, keine bezahlte Nebentätigkeit anzunehmen - folglich blieb nur das Ehrenamt! Und im Nu wurde ich mit Anfragen von diversen Institutionen bombardiert, u.a. von der Kirchengemeinde, Vereinen und schulischen Organisationen. Dabei galt es zunächst, alles auszusortieren, was ich aufgrund meiner gesundheitlichen Defizite gar nicht ausüben konnte.

Internet-Mentorin
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Eine Freundin animierte mich, als erstes bei den Mentoren des Reutlinger Internet-Zentrums einzusteigen. Fünf Jahre lang gab ich also Senioren und anderen Interessenten Hilfestellung und meine PC-Kenntnisse weiter. An einem Vormittag pro Woche kümmerte ich mich um die „blutigen Anfänger" in der Materie, insbesondere Frauen, während sich meine männlichen Kollegen mehr mit den Technik-Freaks befassten.
Diese Tätigkeit machte mir anfangs viel Spaß, lernte ich dabei doch selbst eine ganze Menge dazu und hatte das Gefühl, meine pädagogischen Fähigkeiten auch einmal bei Erwachsenen anbringen zu können. Schließlich galt ich als Ebay- und Google-Expertin, bis ich eines Tages massive Schwierigkeiten mit meinem Gehör sowie Kopfschmerzen aufgrund der Geräuschkulisse in unserem kleinen Schulungsraum bekam. Da musste ich wieder aufhören.

Seniorenbegleitung
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Während dieser fünf Jahre war ich nicht nur als Internethelferin, sondern auch in einer Schreibgruppe aktiv. Und deshalb war es für mich selbstverständlich, unser ältestes Mitglied auch nach dessen Ausscheiden aus der Gruppe regelmäßig im Seniorenheim zu besuchen. Die alte Dame von fast 90 Jahren verbrachte ihre letzten Lebensjahre in einem Tübinger Stift. So fuhr ich nun statt ins Internet-Zentrum einmal in der Woche ins Altersheim, führte mit ihr philosophische Gespräche, ging mit ihr spazieren und in die Cafeteria und hielt auf diese Weise ihren Kontakt zu unserer Schreibgruppe aufrecht. Dabei merkte ich selbst, wie wichtig es ist, sich schon beizeiten Gedanken über das Alter und das Altern zu machen
 
Kinderbetreuung
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Zur gleichen Zeit erlebte ich in meiner unmittelbaren Nachbarschaft den Tod einer jüngeren Frau und Mutter zweier Kinder im Alter von 8 und 10 Jahren. Spontan stellte ich mich zur Betreuung des Mädchens und des Jungen zur Verfügung. Dazu gehörten gemeinsames Abendessen und das Insbettbringen, wenn der Vater abends später von der Arbeit kam, Hausaufgabenhilfe, das Fahren zu Nachhilfestunden oder Spaziergänge mit den Kindern und dem Familienhund. Da meine eigenen Töchter längst aus dem Haus waren, genoss ich die Anhänglichkeit meiner Ersatzkinder.
Inzwischen sind sie vier Jahre älter und aus gegebenem Anlass sehr selbständig, brauchen mich nur noch selten, sind aber für mich weiterhin wie Familienangehörige.

Kulturausschuss
Übrigens hatte auch unser Gemeindepfarrer ein Auge auf mich - die Pensionärin mit Zeitkonto -geworfen und mich in seinen Kulturausschuss beordert. Das ist nun eine eher vergnügliche Angelegenheit, da es um das Organisieren von kulturellen Veranstaltungen, wie zum Beispiel Konzerten, Kabarett und Lesungen geht. Meine Aufgabe ist es außerdem, an der Abendkasse zu sitzen und in der Pause Sekt auszuschenken - immer an einem Sonntag im Monat.

Lesepatin
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Ja, da ich es „mit dem Lesen habe", nicht nur meiner eigenen Texte bei der alle zwei Jahre stattfindenden Reutlinger Kulturnacht, sondern auch gerne vorlese, bin ich offiziell zur Vorleserin avanciert. An einer Förderschule bin ich Lesepatin und mache Sprachtraining mit Migrantenkindern, lese ihnen vor und lasse sie erzählen oder die Bilder beschreiben. Mir tut es gut, auch einmal andere Schüler zu erleben als die an meinem früheren Elite-Gymnasium. Und diesen Kindern tut es gut, eine Stunde lang eine freundliche Person um sich zu haben, die mit ihnen spricht, zuhört und sie ernst nimmt. Eigentlich geht es hier in erster Linie um Vertrauen und Annehmen - was sich natürlich auch positiv auf die Lernbereitschaft auswirkt!

Vorleserin im Hospiz
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Vorleserin bin ich ebenfalls bei einem ALS-Patienten im hiesigen Hospiz. Es handelt sich um einen gelähmten 42-Jährigen im Rollstuhl, der zwar nicht mehr sprechen, aber mittels Augensteuerung über seinen Computer kommunizieren kann und so auch bewegende Gedichte schreibt. Denn sein Geist ist absolut klar und lebendig
Und weil er am aktuellen Tagesgeschehen interessiert ist, bringe ich ihm jede Woche die neuen Ausgaben von SPIEGEL und STERN mit. Die Lese-Artikel wählt er selber aus. Meine Besuche gehören für ihn zu seinem festen Programm, und ich freue mich, sein Fenster zur Außenwelt sein zu können. Wir lachen viel zusammen.
Manchmal werde ich gefragt, wie ich die Tätigkeit im Hospiz aushalte. Der Sinn liegt für mich einfach darin, dass ich diesem liebenswerten Menschen „ein bisschen Leben in die Bude bringen" kann.

Integrationshilfe
Dann wäre da noch die junge Türkin, die seit Anfang Dezember bei mir ein Zimmer gemietet hat. Erst nach und nach habe ich erfahren, dass diese aus ihrem strengen und gewalttätigen Elternhaus geflohen ist. Ihr Familien-Clan verfolgt und belästigt sie, sodass wir uns zu zweit schon mit heruntergelassenen Jalousien im Haus verbarrikadiert haben. Seit das Mädchen nun vorübergehend Zuflucht in einer Klinik gefunden hat, habe ich wieder Ruhe in meinen vier Wänden.
Trotzdem werde ich sie als Mieterin behalten. Ich war mit ihr auf dem Polizeirevier, habe ihr eine Anwältin besorgt und mich über die andere Kultur und Denkweise informiert - insofern tue ich etwas für die „Integration".
Die junge Frau möchte nämlich, wie alle Gleichaltrigen hierzulande, selbstbestimmt leben. Dabei muss man ihr doch helfen, oder?

 
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