Die Autorin:
Die ukrainische Schriftstellerin Katja Petrowskaja wurde 1970 in Kiew geboren.
Sie studierte Literaturwissenschaft in Tartu, Estland und promovierte 1998 in Moskau. Sie arbeitet als Journalistin für verschiedene deutsche und russische Medien und lebt seit 1999 mit ihrem deutschen Mann in Berlin.
Erst mit 26 Jahren fing sie an, die deutsche Sprache zu lernen, in der sie das beeindruckende Buch „Vielleicht Esther“ geschrieben und 2013 in Klagenfurt den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen hat.
Die Autorin begibt sich mit diesem Buch auf die Reise nach der Herkunft ihrer Familie, die jüdische-polnische-russisch-österreichische Wurzeln hat. Viel weiß sie nicht und Dokumente sind nur spärlich vorhanden. So weiß niemand mehr so genau, wie die Urgroßmutter hieß (vielleicht Esther?), die jeder nur „Babuschka“ nannte.
Das Buch:
Es ist ein Glück für den Leser, dass die Autorin Deutsch nicht als Muttersprache gelernt hat, denn so kann sie unbefangen mit den Wörtern umgehen, sie hin- und her wenden und in neue Zusammenhänge bringen. In vielen Kapiteln, die meist mit den Namen von Mitgliedern der Familie oder Orten überschrieben sind, begibt sich Katja Petrowskaja an die Plätze ihrer Erinnerungen, die von Wien nach Warszawa und von dort nach Kiew führen. Nicht immer sind die Umzüge auf Kriegsereignisse zurückzuführen. Die Ahnen der Familie, in der es auffallend viele Lehrer für Gehörlose gibt, gründen an vielen Orten Europas Gehörlosenschulen. Der Umgang mit Sprache ist dem Kind schon früh vertraut, der Vater ist Literaturwissenschaftler, die Mutter Historikerin. Allen ist gemeinsam, dass sie nicht viele schriftliche Zeugnisse ihrer Vorfahren besitzen. Wie in vielen jüdische Familien wurde wenig oder gar nicht über das Unsagbare gesprochen, das die großen Lücken in den Reihen der Überlebenden verursacht hat. Mit großer Hingabe widmet sich die Autorin der Erkundung dieser Lücken, sie reist an Orte der Erinnerung in Osteuropa, folgt den Bruchstücken von Namen, Ereignissen, Jahreszahlen aus ihrem Gedächtnis. Es ereignen sich während der Recherche unglaubliche und überraschende Begegnungen (auch über Kontinente hinweg) und der Flickerlteppich der Wahrnehmungen aus Kindheitstagen fügt sich mehr und mehr zu einem Ganzen. Am Ende weiß die Autorin mehr über die eigene Familiengeschichte und auch darüber, dass in jeder Chronik einer Familie Überraschungen verborgen sind. Alle Variationen des Begriffs „vielleicht“ sind notwendig, um aufzuzeigen, wie unsicher es bleibt, ob die wenigen Zeitzeugen, die Dokumente in Archiven, die Hinweise von da und dort letzte Gewissheiten darstellen. Denn Vornamen werden in Polen anders geschrieben als in Kiew, Nachnamen wurden früher unbefangener geändert und dem neuen Leben angepasst, vieles verschwiegen oder beschönt, wie überall in fast jeder Familie zu allen Zeiten. Der Erzählstil von Katja Petrowskaja ist bilderreich, eigenwillig, flüssig und doch oft auch stockend zugleich. So wie das Leben: ein mäandernder Fluss, oft verwirbelt und gebremst von Felsen und Steinen, dann wieder ruhig und glatt.
Eleonore Zorn
Suhrkamp Berlin, 2014
285 S., geb.
€ 19.95.
ISBN 978-3-518-42404-9