Der Tag, an dem ich Billy Wu kennenlernte, und was darauf folgte

Es war Sonntag, der 30. 5. 2004. Ich war für einige Tage auf einer Gruppenreise in Belgien und gerade in Brüssel. Bei der Vorbereitung auf diese Reise hatte ich von der Brüsseler Kirche Sacré Coeur gelesen: Es sei die fünftgrößte Kirche der Welt, 141 x 107 m groß, mit Aussichtsterrasse und Museum für religiöse Kunst, Art-Déco-Stil, 1905 vom belgischen König Leopold angeordnet, erst 1970 fertiggestellt.
Diese Kirche wollte ich unbedingt ansehen. Über Mittag hatte die Gruppe Freizeit, und ich begab mich allein dorthin. Dabei stellte ich fest, dass meine Uhr auf 14:10 h stehen geblieben war, und fragte die nächstbeste Person, die mir über den Weg lief, nach der Uhrzeit. Es war ein chinesisch aussehender junger Mann, den ich auf Englisch ansprach und der mir freundlich Auskunft gab.
Während wir unsere Wege in dieser großen Kirche fortsetzten, trafen wir uns noch ein paarmal und lächelten uns an. Schließlich fanden wir uns im Aufzug wieder und stellten fest, dass wir beide mit der Straßenbahn in die Stadt fahren wollten. Gemeinsam liefen wir zur Haltestelle. Auf meine neugierige Frage, woher er komme, sagte er mir, dass er aus Kanada sei, ergänzte aber auf mein Erstaunen hin, dass er aus Hongkong stamme und seine Familie nach Kanada ausgewandert sei, als er 14 Jahre alt war. Dort habe ihm ein Lehrer einfach den Namen Billy verpasst.
Nun studierte er Elektrotechnik und war Praktikant bei einem großen Schweizer Elektro-Konzern.
Was ihn in die Stadt Brüssel und dazu noch in eine katholische Kirche – er sei Buddhist – ziehe, wollte ich gern wissen. Er berichtete, dass er, während seine Praktikums-Kollegen eher Interesse an Fußball hätten, lieber den Aufenthalt in der Schweiz nutzen wolle, um Europa kennenzulernen. Er würde jedes Wochenende eine andere, meist europäische Haupt- oder größere Stadt aufsuchen – dank einer guten Bezahlung bei seiner Schweizer Firma und seiner Sparsamkeit sei dies möglich. So war er gerade in Brüssel und hatte sich auch vorab über diese besondere Kirche informiert. Kurz bevor unsere gemeinsame Fahrt endete, nahm Billy einen Zettel, schrieb seine E-Mail-Adresse auf und bat um meine. Dann verabschiedeten wir uns. Ich sagte noch, dass auch Ulm eine schöne Stadt sei, und lud ihn zu mir ein.
Dass ich von ihm hören oder gar ihn wiedersehen würde, konnte ich mir kaum vorstellen. Er war 20 – ich hätte seine Oma sein können.
Aber es kam zu meiner großen Freude so: Ich hörte von ihm immer wieder mittels Postkarten, die er mir von seinen Wochenendausflügen schrieb: von Prag, Budapest, Verona, Istanbul, Kappadokien, Ephesus, Edinburgh, Sintra (Portugal), sogar von  Ägypten und Marokko. Dorthin reiste er vor der Rückkehr auch noch, weil diese Länder von Europa aus leichter zu erreichen seien als von Kanada. Zu mir nach Ulm kam er zweimal. Hier schätzte er besonders die Wiblinger Bibliothek. Wir führten Gespräche über Gott und die Welt. Schon damals war seine Maxime, dass es für ihn nicht auf die Religion ankomme, sondern dass er einfach ein guter Mensch sein wolle. Ich frage mich: Wer sagt so etwas mit 20 Jahren?

Nach seiner Rückkehr nach Calgary promovierte er. Dazu bekam er ein Stipendium, das Vanier Scholarship, dotiert mit 50.000 $ pro Jahr für drei Jahre. Sein Professor, Michal Okoniewski, beschreibt die Stipendiaten so: "Great talents, work habits, curiositiy, inquisitive and open minds eager to learn about, understand, and improve the world with the youthful enthusiasm not spoiled yet by cynicism that often comes with experience. That's what I saw in Billy. That's what makes him such a great student and human being. And that's what makes him worthy of the award."
Er arbeitet in kanadischen Unternehmen, geht immer wieder gern auf Reisen und klettert gern. Ich habe inzwischen eine ganze Sammlung von Postkarten von ihm aus aller Welt, dazu immer wieder E-Mails mit aktuellen Berichten aus seinem Leben, immer auch voller Einfühlungsvermögen und Interesse an meiner Familie mit den Hochzeiten meiner beiden Söhne und der Geburt meiner drei Enkel, von denen er einen schon im Arm hatte.
Von Kanada aus war er noch dreimal bei mir in Ulm, jeweils von Dienstreisen aus: Von Prag, von Bratislava, von Nürnberg. Das sei ja alles ganz nah bei Ulm!
Das Statement seines Professors kann ich nur unterstreichen, und ich bin froh, ihn kennengelernt zu haben. 
Auf einen Gegenbesuch in Calgary, zu dem er mich von Anfang an eingeladen hat, wird er vergebens warten – ich traue mir nicht mehr so eine große Reise zu.
Eine passende Partnerin hat er mit seinen jetzt 34 Jahren – trotz (oder wegen?) seiner Qualitäten – noch nicht gefunden. Das würde ich ihm von Herzen wünschen.

Erstaunlich, was aus einer stehen gebliebenen Uhrzeit werden kann!

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