Eskapaden im Mondenschein

Bild: Pixabay CCO
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Ich werde die Geschichte meiner Schlafwandlerei erzählen. Eine wahre Geschichte!
Ich wohnte damals zuhause bei meinen Eltern, wo auch mein jüngerer Bruder Reiner lebte. Dieser Bruder hatte die Angewohnheit überlaut zu pfeifen, womit er sich natürlich zu profilieren versuchte. Obwohl mir das ständige Gepfeife dieses überdimensionalen Kanarienvogels auf die Nerven ging, versuchte ich auch pfeifen zu lernen. Immer wieder spitzte ich versuchsweise die Lippen, aber aus meiner Kehle drang nur ein jämmerlich dünnes Pfeifgeräusch. Ich war eben nicht als Singvogel geboren, konnte mir sowieso keine Melodie merken, weil ich unmusikalisch war.

Im Übrigen war ich Schülerin, eine gewissenhafte Schülerin, die gute Note nachhause brachte. Meine Schulzeit liegt jetzt schon viele Jahre zurück und so braucht nicht betont zu werden, dass ich als Mädchen im Haushalt helfen musste und mein Bruder nicht. Jeder Moment war verplant mit Schule, Hausaufgaben und Haushaltspflichten wie Treppenputzen und Abwasch. Darüber konnte ich rasend werden, ausrasten, denn ich vertrug die Tatsache, dass ich tagsüber keine Zeit für mich selbst hatte, sehr schlecht. Äußerlich ließ ich mir jedoch nichts anmerken. Es hatte keinen Sinn sich aufzulehnen. Mein fröhlich pfeifender Bruder war nun einmal das Lieblingskind meiner Eltern.
Wir bewohnten eine kleine Mansardenwohnung im dritten Stock eines Mehrfamilienhauses an einer belebten Straße. Tagsüber hörte man von der Straße her Stimmengewirr und das Getrappel vieler Schritte, auch Bremsengequietsche, wenn die Autos an der Ampel anhielten. Doch abends war es herrlich still. Bei geöffnetem Fenster las ich dann lange bei Mondlicht. Der Mond leuchtete wie auf einer Reklametafel, nur schöner, dachte ich.

Der schöne Mond entzückte mich immer wieder. Unter dem Vorwand meine Aufgaben zu machen, verschwand ich an Vollmondabenden nach dem Nachtessen sofort in mein Zimmer, um nach dem Mond zu sehen, der bereits rosig angehaucht zwischen zwei Fabrikschornsteinen hing und auf mein Fenster herabsah. Was gab es Schöneres? In die Wolken waren glänzenden Fäden eingewebt, Silberdunst lag auf den Fenstersimsen und die Blitzableiter auf den Dächern schleuderten Funken. Ich vertiefte mich in Stifters Erzählung „Der Kondor“, die so begann: „Um zwei Uhr nachts in einer schönen Junimondnacht ging ein Kater längs des Dachfirsts und schaute in den Mond. Das eine der Augen, von dem Glanze des Nachtgestirns getroffen, erglänzte wie ein grüner Irrwisch, das andere war schwarz, wie Küchenpech, und so glotzte er zuletzt, am Ende der Dachkante angekommen, bei einem Fenster hinein- und ich heraus.“ Wirklich sah ich eine Katze vorbeischleichen, die gebannt auf mich starrte.

Mein Bruder Reiner, der abends oft spät nachhause kam, hatte, als er zur späten Stunde durch unsere Straße ging, wieder einmal vor sich hingepfiffen und zwar in seiner rücksichtslosen Art so laut, dass die Leute in den unteren Stockwerken sicher aufgewacht waren.
Plötzlich passierte es, dass ihm eine mondsüchtige Person auf den Kopf fiel, oder vielmehr in seine unwillkürlich geöffneten Arme und ihn auf die Erde warf. Reiner musste mit Prellungen und einem Armbruch ins Krankenhaus. Ich war unverletzt geblieben. Es sei gewesen, erzählte er, als ich ihn am nächsten Tag mit der Mutter im Krankenhaus besuchte, als ob einer von einer Bombe getroffen wurde, nur mit dem Unterschied, dass diese nicht explodiert wäre.

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