Johann Sebastian Bach, Freiburg und die Hohe Messe h-moll, 2. Mai 1961

Im Jahr 1955, mit 16 Jahren, lernte ich einen jungen Mann kennen und freundete mich mit ihm an, der in der Nähe von Frankfurt, ca. 280 km von meiner Heimat entfernt, lebte. So dauerte es eine Weile, bis ich die Freude hatte, auch seine Mutter kennenzulernen, eine Sängerin. Sie erzählte oft von den Werken, die sie mitgesungen hatte. Am meisten war sie ergriffen von einem Werk, von dem ich – obwohl Gymnasial- und Klavierschülerin – noch nichts gehört hatte. Es war die h-moll-Messe von J. S. Bach, die sie mit einer kleinen Besetzung im Frankfurter Rundfunkchor unter dem Thomaskantor Günther Ramin (+ 1956) mitgesungen hatte.

Ihre Begeisterung steckte mich so an, dass sich mir der Name dieser Messe tief einprägte. Ich hatte nur keine Gelegenheit, sie zu hören oder gar mitzusingen.

Die Freundschaft mit diesem jungen Mann ging zwar zu Ende, aber der Kontakt zu seiner Mutter blieb eine Weile erhalten, vor allem aber hatte ich ihre Begeisterung für die h-moll-Messe nicht vergessen.

Der 2. Mai – ein besonderer Tag

Im Sommersemester 1961 fing ich an zu studieren und entschied mich für Freiburg als Studienort. Nach meiner Ankunft am 1. 5. ging ich am nächsten Tag, dem 2. Mai, in die Uni und schaute mich um. Dabei entdeckte ich ein Plakat des Freiburger Bachchors mit der Ankündigung, dass dieser die h-moll-Messe proben würde und neue Sänger/innen suche. Welche Freude und Überraschung: die h-moll-Messe, von der ich schon jahrelang geträumt hatte. Singerfahrung hatte ich schon dank Schul- und Kirchenchor, also war klar, dass ich in diesen Chor eintreten würde. Zudem begann für mich ein neues Leben: Die wunderschöne Stadt Freiburg, strahlende Sonne – im Gegensatz zu meiner eher grauen niederrheinischen Heimatstadt –, das Studentenleben nach einer zweijährigen Bürotätigkeit. Eine neue Welt tat sich mir an diesem Tag auf.

Am 5. 5. fand die erste Probe statt. Von Anfang an war ich begeistert, nicht nur von der Musik, sondern auch von den Mitsänger/innen und vom Chorleiter Theodor E. Die Aufführung der h-moll-Messe war erst für das Wintersemester geplant, weil sie sich in einem kurzen Sommersemester gar nicht schaffen ließe. Wer Zeit genug hatte, konnte noch das Magnificat von J. S. Bach und das Verdi-Requiem mitproben. Ich hatte die Zeit – was drei Probenabende pro Woche bedeutete, davon zwei für die h-moll-Messe. Wie ich es geschafft habe, überhaupt zu den Proben zu kommen - mit einer Wohnung am Hang, steil, in einer wenig belebten Villengegend, mit Fahrrad ohne Gangschaltung und oft mit Heimfahrt im Dunkeln, das weiß ich nicht mehr.

Das Verdi-Requiem führten wir im Theater auf, das Magnificat im Elsass – auch eine neue Welt für mich – und machten davon eine Rundfunkaufnahme.

H-Moll-Messe

Nach den Semesterferien konzentrierten wir uns hauptsächlich auf die Messe, lernten aber auch noch das Weihnachtsoratorium für eine Aufführung am 15. 12.

Danach ging es nur noch um die Messe – bis zur Aufführung in der Freiburger Stadthalle am 28. 1. 1962. Wie hatten wir, der Chor, uns darauf gefreut, wie wunderbar war es, die Messe zu mitzusingen und ausgezeichnete Solist/innen wie Marga Höffgen und Agnes Giebel in den Solopartien zu hören.

Als Ende Februar nach der Sturmflut in Hamburg der Chor aufgefordert wurde, zugunsten der Flutopfer die Messe noch einmal aufzuführen, waren wir alle begeistert.

Dieses Werk hat mich mein ganzes Leben lang 'verfolgt'. Als ich nach München wechselte, fand ich im Vorlesungsverzeichnis die Ankündigung einer Vorlesung über die h-moll-Messe im Vergleich mit der Missa Solemnis von Beethoven – klar, dass ich dorthin gehen würde. Interpretationen der Messen aus dieser Vorlesung begleiten mich bis heute bei jeder Aufführung. In München habe ich mich nicht getraut, in den berühmten dortigen Bachchor zu gehen, habe aber jede h-moll-Messe dort gehört.

Ein paar Jahre musste ich in anderen Wohnorten auf die h-moll-Messe 'live' verzichten. Ende 1973, inzwischen in Ulm, probte auch die Ulmer Kantorei diese Messe. Ich war gleich dabei, und wir hatten Aufführungen in Ulm und vor vollen Kirchen auch in Bologna und Piacenza. Inzwischen habe ich die Messe 13 – 14 Mal mitgesungen mit den jeweiligen Probenphasen, sodass ich ganze Teile auswendig kann.

Begeistert habe ich von 1973 bis heute auch die großen Passionen von Bach und viele andere bedeutende Werke der Musikliteratur kennengelernt und mitgesungen, auch die Missa Solemnis, aber die h-moll-Messe ist und bleibt die größte Herausforderung und Freude.

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