Oben auf der Tonne*

„He, Sie da, Sie stehen vor meiner Einfahrt“. Ich halte nach dem Fenster Ausschau, um den zu mir herab sprechenden Mahner zu entdecken. „Ja gucken Sie nicht so, das ist mein Stellplatz!“. Mein Blick sinkt nun zu Boden, wo ich demütig, schuldbereit so etwas wie eine Markierung zu entdecken suche. Ein mächtiger Stoß trifft meinen Rücken. Nun finden meine Augen den gewaltigen Sprecher. Hoch droben auf der Waschbetonbox der Mischmüllmülltonne steht er. Mit dem Hochdruckreiniger sprüht er die Reste von Natur und Feinstaub aus dem in exakten Rauten geriffelten Madenputz. „He, Sie da, Sie stehen vor meiner Einfahrt!“ dröhnt die Stimme des Erzengels zu mir, der sich wieder seiner schöpferischen, schützenden Tätigkeit zuwendet.

Ich stammle Vergebung erbittend einige Worte und bestaune den Mann auf der Tonne. „Fahren Sie doch in die Nebenstraße.“ Ich erwidere, dass er momentan wohl nicht hinausfahren möchte, zumal keinerlei Fuhrwerk in dem als „Ausfahrt“ deklarierten Krabbelgang stünde. „Mein Wagen steht nebenan.“ Eindeutig steht auf einer regulären Stellfläche des Nachbarhauses ein PKW, der eine freie Ausfahrt hat.

Der Mann auf der Tonne droht nun mit Behörden und Abschleppdienst. Ich gehe meinen Geschäften nach und bei der zügigen Rückkehr zum Wagen begleitet mich zum Entladen ein Helfer. Wieder vernehmen wir aus Wolkenhöhen jenseits des Tonnenhorizontes die mahnenden Worte „Sie stehen vor meiner Einfahrt.“ Mein Begleiter verfällt sofort in huldigende Starre. Ich folge seinem Vorbild und blicke demütig auf die Stiefel des Mannes auf der Tonne. Mit kleinerem Werkzeug reinigt er nicht mehr wahrnehmbare Riefen und Vertiefungen des Rauputzes.

Wie klein bin ich doch mit meinem ungewaschenen Nutzfahrzeug im Angesicht des Herrn auf der Tonne. Auch mein kräftiger Begleiter ragt über die Knie des Meisters nicht hinaus. Wir bilden eine stumme Gemein- de zu den Füßen des Vorbeters, der wieder sein. „Sie stehen vor meiner Einfahrt!“ intoniert. Ja, wahrlich wir haben uns versammelt, um die Wegweisung zu erfahren. Wir stehen vor seiner Einfahrt. Doch der Herr von der Tonne sagt uns keinen Weg. In der Nebenstraße wollen wir nicht stehen, wo wir seiner Sicht entrückt sind.
Wird er ein Versammlungsverbot aussprechen oder seine kleine Gemeinde gnädig annehmen?

Weltliche Geschäfte zwingen mich aufzubrechen, doch gerne werde ich wiederkommen, um die Stimme zu vernehmen, die über den Abfällen Weisung gibt, um das Wirken des Mannes zu sehen, der das Mauerwerk in seiner weißen Tünche erblühen lässt. Der Herr hat uns ein Zeichen gegeben, folgt dem Strahl des Hochdruck- reinigers.


*     Die anekdotische Novelle entstand 2005 im ärztlichen Notdienst. Die Verteidigung des Hofrechts durch den Hofwart ist aber auch 2016 eine übliche Praxis im Ruhrgebiet. Menschen finden Erfüllung in der Kontrolle des Hausmülls ihrer Mieter. Manch einer patrouilliert mit seinem Wachhund um die Mülltonnen seiner Liegenschaften, um diesen Quadratmeter mit Ordnung und Aufsicht zu erfüllen. Auf diese Weise für Ordnung im Quartier sorgen zu müssen, kann auch als Obsession aufgefasst werden. Obsessionen sind in die Nähe der Süchte gerückt. Die anekdotischen Helden sind eindimensional und leben dennoch in unserem vierdimensionalen Kontinuum. Die Ernsthaftigkeit für den Besessenen wendet sich beim Betrachter zur humorvollen Distanzierung. Und trotzt der Entmachtung des Besessenen durch den Spott der Umgebung, leidet der Umkreis unter seinem Machtanspruch.

Erstveröffentlichung: IZPP | Ausgabe 1/2017 | Themenschwerpunkt „Abhängigkeit und Sucht“ | Anekdote zum Themenschwerpunkt

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