Die Erfindung der Großmütter
von Geeske Pfeiffer
Die neuesten Zahlen haben es mal wieder gezeigt: wir werden immer
älter, sind immer länger in der Lage, aktiv am Leben teilzunehmen –
können also in Bewegung bleiben.
Dies ist allerdings nicht selbstverständlich, denn Langlebigkeit ist im
„Säugetierreich“ nicht alltäglich.
Wie kommt es also dazu, dass unser Alltagsbild so von Männern und Frauen
im Großelternalter geprägt ist? Denn gerade Großmütter erscheinen unter
wissenschaftlichen Gesichtspunkten betrachtet eher als Laune der
Evolution.
Es muss nicht immer Darwin sein
Versucht man dieses Phänomen mit Hilfe von Darwin, dem Begründer der
Theorie der natürlichen Evolution zu erklären, kommt man nicht
sonderlich weit, denn nach seiner Logik kann man sich im Kampf ums
Überleben nur Vorteile verschaffen, in dem man besonders reproduktiv
ist, also besonders viel Nachwuchs in die Welt setzt.
Unter diesem Gesichtspunkt macht es dann auch nur wenig Sinn, zwar die
eigentliche Lebensspanne zu verlängern, nicht aber den Lebensabschnitt,
in dem die Frau fruchtbar ist. Eine mögliche Erklärung wäre, dass es
sich für Menschen einfach nicht lohnt, bis ans Ende ihres Lebens Kinder
zeugen zu können, denn wie wir heute wissen, steigt mit zunehmendem
Alter der Schwangeren nicht nur das Risiko für eine möglicherweise
gestörte vorgeburtliche Entwicklung des Kindes, sondern auch die Gefahr
für eventuell tödliche Komplikationen während des eigentlichen
Geburtsvorganges.
Risiko Schwangerschaft
So genannte „Spätgebärende“ sind heute zwar längst keine Seltenheit
mehr, aber dennoch ist ihr Ruf nicht der beste. Der mögliche Tod der
Mutter gefährdet nämlich nicht nur das Überleben des Neugeborenen,
sondern möglicherweise auch das von schon älteren Geschwistern, die
ebenfalls noch eine gewisse Zeit von der Mutter abhängig sind.
Diese Erklärung erscheint zunächst wunderbar einleuchtend: wir beenden
zu Gunsten unserer bereits geborenen Kinder unsere Fortpflanzung.
Verschiedene Wissenschaftler gehen heute jedoch eher davon aus, dass es
trotz des stetig ansteigenden Risikos weiterhin vorteilhafter ist,
eigenen Nachwuchs zu produzieren, als sich um den Nachkömmlinge der
Kinder und Kindeskinder zu kümmern.
Denn wie jedes Hasenweibchen oder jeder weibliche Primat werden auch wir
Menschenfrauen bereits mit dem Follikelvorrat geboren, der unser
gesamtes Leben reichen muss. Ist dieser dann aufgebraucht, tritt die
Menopause ein und wir verlieren unsere Reproduktionsfähigkeit.
Erblast
Alle anderen Säugetierweibchen sterben kurz nach diesem Vorgang. Nur
bei den weiblichen Menschen ist die postmenopausale Lebensspanne beinahe
noch einmal genau so lang, wie der reproduktive Lebensabschnitt.
Dieses Timing scheint vielmehr eine Erblast zu sein, die uns unsere
Vorfahren auferlegt haben und weniger eine optimale Anpassung an unsere
Lebenswirklichkeit.
Denn hätte die Evolution unsere fruchtbaren Jahre verlängern und damit
unseren Reproduktionserfolg steigern wollen, hätte nicht nur der
Follikelvorrat der Frau enorm vergrößert werden, sondern auch der
Bauplan der weiblichen Geschlechtsorgane hätte überdacht werden müssen.
Ein weiteres Argument gegen die These der funktionalen Angepasstheit ist
die Tatsache, dass sich die Altersspanne, in der die Frauen in die
Menopause kommen, seit der Antike praktisch nicht mehr signifikant
verschoben hat.
Warum nun also diese evolutionäre Besonderheit?
Ein Blick zurück
Um einer Erklärung ein wenig näher zu kommen, ist es
unerlässlich, einen Blick zurück in die unendlichen Weiten der
Menschheitsgeschichte zu werfen, denn das Altwerden ist keine
Erscheinung, die erst mit den verbesserten Lebensumständen im Zuge der
industriellen Revolution auftauchten. Tatsächlich lassen stattdessen
neuere anthropologische Untersuchungen an rezenten Jäger – und
Sammlergesellschaften den Schluss zu, dass Frauen - auch schon vor der
Zeit der agrarischen Lebensweise in festen Siedlungen - nach dem
Eintritt der Menopause noch eine nicht unbeträchtliche Lebenserwartung
hatten. Und diese Ergebnisse wiederum führen nun zu der Erkenntnis, dass
es sich bei der verlängerten postmenopausalen Lebensspanne auf keinen
Fall um eine „Errungenschaft der Zivilisation“, sondern viel mehr um
einen festen genetischen Anhang aus unserer Herkunftsgeschichte handelt.
„Attachment“
Wie dieses „Attachment“ jedoch entstanden ist, ist eine ebenso wage
Angelegenheit, wie die Frage nach dem Nutzen. Viele Wissenschaftler
favorisieren die Theorie vom „fly – by“ –Phänomen, bei der das
postmenopausale Überleben lediglich ein Nebenprodukt der Selektion war,
das einfach nicht wieder abgeschafft wurde.
Oder anders ausgedrückt: wer als Frau das Glück hatte, 50 zu werden,
hatte den sprichwörtlichen „toten Punkt“ überwunden und durfte weiter
auf der Erde verweilen.
Eckart Voland vergleicht diesen Vorgang mit einer Raumsonde, die nach
Erfüllung ihrer Aufgabe weiter durchs All schwebt, weil dies weniger
kompliziert ist, als ihr einen Selbstzerstörungsmechanismus einzubauen.
An dieser Stelle also einen Dank an die scheinbare Willkür der
Evolution, denn es wäre nicht auszudenken, wo wir wären, wenn sie uns
solch einen Mechanismus implantiert hätte…
Großmutter gleich Großmutter?
Nach dem wir also damit leben müssen, dass es anscheinend eher
ein Zufall war, dass Frauen heute ins Großmutteralter kommen und damit
die für Großmütter typischen Verhaltensweisen erst sekundär angenommen
wurden, wenden wir uns einem wirklich spannenden Aspekt des
Erfindungsvorgangs zu: warum sind Omas so, wie sie sind?
Soziobiologen bezeichnen die Aufgaben, die die Mütter unserer Eltern
übernehmen als „indirekte Brutpflege“: sie rechtfertigt nicht nur die
Existenz dieser Frauen, sondern bringt uns Enkelkinder oft auch besser
durchs Leben.
Diese indirekte Brutpflege variiert von Familie zu Familie, von
Kulturkreis zu Kulturkreis und berührt verschiedenste Lebensbereiche (z.
B. die Weitergabe von Erfahrung oder kulturellem Wissen, oder das
Erwirtschaften zusätzlicher Nahrung).
Die Konsequenzen, die das Wirken einer Oma auf das Leben ihrer Familie
hat, sind aber längst nicht immer positiv.
Schwiegermütter
Studien, die in den unterschiedlichsten Regionen der Welt und für
die verschiedensten Jahrhunderte erstellt wurden, zeigten im Ergebnis
eine Ähnlichkeit, die beweist, dass eine Großmutter das familieninterne
Gleichgewicht durchaus durcheinander wirbeln kann.
Und viele Frauen haben es vermutlich auch schon am eigenen Leib
erfahren, was die alleinige Ankündigung eines Besuchs der
Schwiegermutter auslösen kann: Stress, Streit mit dem Partner und nicht
enden wollende Putzattacken.
Warum sich die Unterstützung der eigenen Mutter positiver auf die Frau
und deren Nachwuchs auswirkt, als der „Beistand“ der Mutter des
Ehemannes lässt sich leicht erklären.
Beispiel – böse Schwiegermütter?
Eine Untersuchung von Kirchenbüchern in der Krummhörn aus dem 18.
und 19. Jahrhundert hat gezeigt, dass die Rate der Säuglinge, die
bereits tot auf die Welt kamen, oder kurz nach Geburt starben wesentlich
höher bei den Familien war, bei denen die Mutter des Sohnes in
unmittelbarer Nähe wohnte. Es gibt sie also anscheinend tatsächlich: die
böse Schwiegermutter.
Großeltern – Investment
Nun aber zum „Warum“ zurück. Biologen erklären diese
Ungleichverteilung von „Großeltern – Investment“ als Schachzug der
Evolution: die Vaterschaftsunsicherheit, oder auch die Angst vor dem
Kuckuckskind.
Die Mutter der Mutter kann sich über die genetische Verwandtschaft zu
ihrem Enkelkind immer sicher sein, während die Großmutter
väterlicherseits mit der Unsicherheit leben muss, dass der Enkel
eventuell nicht ihr Leiblicher ist.
Warum dann also Zeit, Geld und Schokoladentafeln in ein Kind
investieren, dass unter Umständen gar nicht die Erbanlagen des Sohnes
und damit auch die Eigenen trägt?
Es kommt also zwangsläufig neben der eigentlichen
Vaterschaftsunsicherheit zu weiteren Konflikten. Denn während sich die
Interessen von Mutter und Tochter bei der „Brutpflege“ weitgehend
decken, prallen bei Schwiegermutter und Schwiegertochter oft Welten
aufeinander.
Nicht ist wie es scheint
Tatsächlich bekommt hier also das Bild der liebevollen Großmutter
einen kräftigen Sprung, denn wer unterstellt schon gerne der Frau, die
einem immer die Märchen vorgelesen hat, eine solch eiskalte Berechnung?
Großmütter, so sieht es schlussendlich aus, maximieren ihre eigene
Fitness durch das Leisten von Hilfe und einen bestimmten Grad von
sozialer Manipulation. Aber uns bleibt wohl nichts anderes übrig, als
hinzunehmen, dass jede Familie auch gleichzeitig ein Kleinstaat ist, in
dem Politik gemacht wird. Wir sollten uns also glücklich schätzen, wenn
unsere Oma auch tatsächlich nur unsere Oma ist.
Links und Info
http://www.spiegel.de/dertag/pda/avantgo/artikel/0,1958,405840,00.html
zu „Krummhörn“
www.uni-giessen.de/~gm10/HistSocRes.pdf
zum Thema Großeltern im Alltag
http://www.faz.net/s/RubCD175863466D41BB9A6A93D460B
81174/Doc~EECE327376FEB4975BDB43889A9457193~AT
pl~Ecommon~Scontent.html
www.großeltern-initiative.de
M. Lahdenperä, V. Lumaa, et al., Fitness benefits of prolonged post –
reproductive lifespan in women, Nature 2004, 428, 178-181
L.E. Leidy, Biological Aspects of menopause: Across the lifespan, Annual
review of Anthropology 1994, 23,231-253
E. Voland, Grundrisse der Soziobiologie, Spektrum , Akademischer
Verlag, Heidelberg, 2000