Ausgabe Nr. 39   Sept. 2007                         Online-Journal zur allgemeinen Weiterbildung
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Die Erfindung der Großmütter

                                                                    von Geeske Pfeiffer

Die neuesten Zahlen haben es mal wieder gezeigt: wir werden immer älter, sind immer länger in der Lage, aktiv am Leben teilzunehmen – können also in Bewegung bleiben.
Dies ist allerdings nicht selbstverständlich, denn Langlebigkeit ist im „Säugetierreich“ nicht alltäglich.
Wie kommt es also dazu, dass unser Alltagsbild so von Männern und Frauen im Großelternalter geprägt ist? Denn gerade Großmütter erscheinen unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten betrachtet eher als Laune der Evolution.

Es muss nicht immer  Darwin sein
Versucht man dieses Phänomen mit Hilfe von Darwin, dem Begründer der Theorie der natürlichen Evolution zu erklären, kommt man nicht sonderlich weit, denn nach seiner Logik kann man sich im Kampf ums Überleben nur Vorteile verschaffen, in dem man besonders reproduktiv ist, also besonders viel Nachwuchs in die Welt setzt.
Unter diesem Gesichtspunkt macht es dann auch nur wenig Sinn, zwar die eigentliche Lebensspanne zu verlängern, nicht aber den Lebensabschnitt, in dem die Frau fruchtbar ist. Eine mögliche Erklärung wäre, dass es sich für Menschen einfach nicht lohnt, bis ans Ende ihres Lebens Kinder zeugen zu können, denn wie wir heute wissen, steigt mit zunehmendem Alter der Schwangeren nicht nur das Risiko für eine möglicherweise gestörte vorgeburtliche Entwicklung des Kindes, sondern auch die Gefahr für eventuell tödliche Komplikationen während des eigentlichen Geburtsvorganges.

Risiko Schwangerschaft
So genannte „Spätgebärende“ sind heute zwar längst keine Seltenheit mehr, aber dennoch ist ihr Ruf nicht der beste. Der mögliche Tod der Mutter gefährdet nämlich nicht nur das Überleben des Neugeborenen, sondern möglicherweise auch das von schon älteren Geschwistern, die ebenfalls noch eine gewisse Zeit von der Mutter abhängig sind.
Diese Erklärung erscheint zunächst wunderbar einleuchtend: wir beenden zu Gunsten unserer bereits geborenen Kinder unsere Fortpflanzung.
Verschiedene Wissenschaftler gehen heute jedoch eher davon aus, dass es trotz des stetig ansteigenden Risikos weiterhin vorteilhafter ist, eigenen Nachwuchs zu produzieren, als sich um den Nachkömmlinge der Kinder und Kindeskinder zu kümmern.
Denn wie jedes Hasenweibchen oder jeder weibliche Primat werden auch wir Menschenfrauen bereits mit dem Follikelvorrat geboren, der unser gesamtes Leben reichen muss. Ist dieser dann aufgebraucht, tritt die Menopause ein und wir verlieren unsere Reproduktionsfähigkeit.

Erblast
Alle anderen Säugetierweibchen sterben kurz nach diesem Vorgang. Nur bei den weiblichen Menschen ist die postmenopausale Lebensspanne beinahe noch einmal genau so lang, wie der reproduktive Lebensabschnitt.
Dieses Timing scheint vielmehr eine Erblast zu sein, die uns unsere Vorfahren auferlegt haben und weniger eine optimale Anpassung an unsere Lebenswirklichkeit.
Denn hätte die Evolution unsere fruchtbaren Jahre verlängern und damit unseren Reproduktionserfolg steigern wollen, hätte nicht nur der Follikelvorrat der Frau enorm vergrößert werden, sondern auch der Bauplan der weiblichen Geschlechtsorgane hätte überdacht werden müssen.
Ein weiteres Argument gegen die These der funktionalen Angepasstheit ist die Tatsache, dass sich die Altersspanne, in der die Frauen in die Menopause kommen, seit der Antike praktisch nicht mehr signifikant verschoben hat.
Warum nun also diese evolutionäre Besonderheit?

Ein Blick zurück
Um einer Erklärung ein wenig näher zu kommen, ist es unerlässlich, einen Blick zurück in die unendlichen Weiten der Menschheitsgeschichte zu werfen, denn das Altwerden ist keine Erscheinung, die erst mit den verbesserten Lebensumständen im Zuge der industriellen Revolution auftauchten. Tatsächlich lassen stattdessen neuere anthropologische Untersuchungen an rezenten Jäger – und Sammlergesellschaften den Schluss zu, dass Frauen - auch schon vor der Zeit der agrarischen  Lebensweise in festen Siedlungen  - nach dem Eintritt der Menopause noch eine nicht unbeträchtliche Lebenserwartung hatten. Und diese Ergebnisse wiederum führen nun zu der Erkenntnis, dass es sich bei der verlängerten postmenopausalen Lebensspanne auf keinen Fall um eine „Errungenschaft der Zivilisation“, sondern viel mehr um einen festen genetischen Anhang aus unserer Herkunftsgeschichte handelt.

„Attachment“
Wie dieses „Attachment“ jedoch entstanden ist, ist eine ebenso wage Angelegenheit, wie die Frage nach dem Nutzen. Viele Wissenschaftler favorisieren die Theorie vom „fly – by“ –Phänomen, bei der das postmenopausale Überleben lediglich ein Nebenprodukt der Selektion war, das einfach nicht wieder abgeschafft wurde.
Oder anders ausgedrückt: wer als Frau das Glück hatte, 50 zu werden, hatte den sprichwörtlichen „toten Punkt“ überwunden und durfte weiter auf der Erde verweilen.
Eckart Voland vergleicht diesen Vorgang mit einer Raumsonde, die nach Erfüllung ihrer Aufgabe weiter durchs All schwebt, weil dies weniger kompliziert ist, als ihr einen Selbstzerstörungsmechanismus einzubauen. An dieser Stelle also einen Dank an die scheinbare Willkür der Evolution, denn es wäre nicht auszudenken, wo wir wären, wenn sie uns solch einen Mechanismus implantiert hätte…

Großmutter gleich Großmutter?
Nach dem wir also damit leben müssen, dass es anscheinend eher ein Zufall war, dass Frauen heute ins Großmutteralter kommen und damit die für Großmütter typischen Verhaltensweisen  erst sekundär angenommen wurden, wenden wir uns einem wirklich spannenden Aspekt des Erfindungsvorgangs zu: warum sind Omas so, wie sie sind?
Soziobiologen bezeichnen die Aufgaben, die die Mütter unserer Eltern übernehmen als „indirekte Brutpflege“: sie rechtfertigt nicht nur die Existenz dieser Frauen, sondern bringt uns Enkelkinder oft auch besser durchs Leben.
Diese indirekte Brutpflege variiert von Familie zu Familie, von Kulturkreis zu Kulturkreis und berührt verschiedenste Lebensbereiche (z. B. die Weitergabe von Erfahrung oder kulturellem Wissen, oder das Erwirtschaften zusätzlicher Nahrung).
Die Konsequenzen, die das Wirken einer Oma auf das Leben ihrer Familie hat, sind aber längst nicht immer positiv.

Schwiegermütter
Studien, die in den unterschiedlichsten Regionen der Welt und für die verschiedensten Jahrhunderte erstellt wurden, zeigten im Ergebnis eine Ähnlichkeit, die beweist, dass eine Großmutter das familieninterne Gleichgewicht durchaus durcheinander wirbeln kann.
Und viele Frauen haben es vermutlich auch schon am eigenen Leib erfahren, was die alleinige Ankündigung eines Besuchs der Schwiegermutter auslösen kann: Stress, Streit mit dem Partner und nicht enden wollende Putzattacken.
Warum sich die Unterstützung der eigenen Mutter positiver auf die Frau und deren Nachwuchs auswirkt, als der „Beistand“ der Mutter des Ehemannes lässt sich leicht erklären.

Beispiel – böse Schwiegermütter?
Eine Untersuchung von Kirchenbüchern in der Krummhörn aus dem 18. und 19. Jahrhundert hat gezeigt, dass die Rate der Säuglinge, die bereits tot auf die Welt kamen, oder kurz nach Geburt starben wesentlich höher bei den Familien war, bei denen die Mutter des Sohnes in unmittelbarer Nähe wohnte. Es gibt sie also anscheinend tatsächlich: die böse Schwiegermutter.

Großeltern – Investment
Nun aber zum „Warum“ zurück. Biologen erklären diese Ungleichverteilung von „Großeltern – Investment“ als Schachzug der Evolution: die Vaterschaftsunsicherheit, oder auch die Angst vor dem Kuckuckskind.
Die Mutter der Mutter kann sich über die genetische Verwandtschaft zu ihrem Enkelkind immer sicher sein, während die Großmutter väterlicherseits mit der Unsicherheit leben muss, dass der Enkel eventuell nicht ihr Leiblicher ist.
Warum dann also Zeit, Geld und Schokoladentafeln in ein Kind investieren, dass unter Umständen gar nicht die Erbanlagen des Sohnes und damit auch die Eigenen trägt?
Es kommt also zwangsläufig neben der eigentlichen Vaterschaftsunsicherheit zu weiteren Konflikten. Denn während sich die Interessen von Mutter und Tochter bei der „Brutpflege“ weitgehend decken, prallen bei Schwiegermutter und Schwiegertochter oft Welten aufeinander.

Nicht ist wie es scheint
Tatsächlich bekommt hier also das Bild der liebevollen Großmutter einen kräftigen Sprung, denn wer unterstellt  schon gerne der Frau, die einem immer die Märchen vorgelesen hat, eine solch eiskalte Berechnung?
Großmütter, so sieht es schlussendlich aus, maximieren ihre eigene Fitness durch das Leisten von Hilfe und einen bestimmten Grad von sozialer Manipulation. Aber uns bleibt wohl nichts anderes übrig, als hinzunehmen, dass jede Familie auch gleichzeitig ein Kleinstaat ist, in dem Politik gemacht wird. Wir sollten uns also glücklich schätzen, wenn unsere Oma auch tatsächlich nur unsere Oma ist.

Links und Info
http://www.spiegel.de/dertag/pda/avantgo/artikel/0,1958,405840,00.html

zu „Krummhörn“
www.uni-giessen.de/~gm10/HistSocRes.pdf

zum Thema Großeltern im Alltag
http://www.faz.net/s/RubCD175863466D41BB9A6A93D460B
81174/Doc~EECE327376FEB4975BDB43889A9457193~AT
pl~Ecommon~Scontent.html

www.großeltern-initiative.de
M. Lahdenperä, V. Lumaa, et al., Fitness benefits of prolonged post – reproductive lifespan in women, Nature 2004, 428, 178-181
L.E. Leidy, Biological Aspects of menopause: Across the lifespan, Annual review of Anthropology 1994, 23,231-253
E. Voland, Grundrisse der Soziobiologie, Spektrum , Akademischer Verlag,         Heidelberg, 2000

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