von Roswitha Ludwig Märchenfiguren ziehen aus und bestehen Gefahren an
bedrohlichen Orten. Bewähren sie sich, so erreichen sie ihr Ziel - einen Ort,
an dem sie glücklich leben können. Wirkliches und innere Vorgänge durchdringen
sich.
Vom Weggehen
Die reiche Stadt Bremen versorgte ihre alten Musikanten. Dorthin wollen Esel,
Hund, Katze und Hahn ziehen.
Jedes Tier ist bei seiner ursprünglichen Arbeit alt und leistungsschwach
geworden. Durch die jeweiligen Herren droht der Tod. Das bringt sie zusammen:
„Etwas Besseres als den Tod findest Du überall", gilt für die
„Landesflüchtigen".
Sie übernachten im Wald. Der Hahn entdeckt vom Wipfel eines Baumes aus eine
beleuchtete Räuberhütte. Unter dem Fenster wagen sie ihren „musikalischen
Auftritt"
Die Musikanten; Quelle: Goethe Theater Wiesbaden, freigegeben
Die Zecher erschrecken und fliehen in Panik. Die Essensreste genügen den
Vieren, und ein Dach haben sie auch über dem Kopf. Sie bleiben wachsam und
ruhen an verschiedenen Plätzen. Ein Räuber kehrt im Dunkeln zurück, um den
unerklärlichen Fluchtgrund zu erforschen. Die Aufgeschreckten reagieren
abwehrend. Mit dem Eindruck, es sei Teufelswerk im Spiel, flieht der
Kundschafter und berichtet seinen Kumpanen. Dahin drängt es keinen Räuber
zurück. Die vier können bleiben, sie haben Heimat gefunden und müssen nicht
nach Bremen.
Rückkehrer - Karriere
Die Erzählung von F. Wagenfeld (1810 - 1846) passt in das weltoffene Bremen.
Die sieben faulen Söhne eines armen Bauern finden auch als Knechte keine
Arbeit. Deshalb ziehen sie in die Fremde.
Mit neuen Ideen und Kenntnissen kehren sie zurück. Sie verstehen es Dämme zu
bauen, sumpfiges Gelände trocken zu legen, Straßen zu pflastern. .... Mit
kürzerer Arbeitszeit und geringerem Kräfteeinsatz vermehren sie das Vermögen
der Familie. Sichtbar wird das an ihren stattlichen Häusern und gesicherten
Gehöften. Auch ein Brunnen gehört dazu, der den langen Weg des Wasserholens erspart.
Weg gingen sie als die faulen Müßiggänger, denen die Heimat keine Perspektive
bot. In der Fremde lernen sie alles, was Fortschritt bringen kann und setzen es
tatkräftig daheim um.
Die argwöhnenden Nachbarn in der Geschichte bleiben bei ihren Vorurteilen. Sie
sehen in den Veränderungen den Drang zur Bequemlichkeit. Die Faulen bleiben für
sie die Faulen. Doch hier ist Müßiggang die Triebfeder des Fortschritts.
Heim zur Mutter
Hans im Glück tritt nach siebenjährigem treuem Dienst vor seinen Herrn und
spricht: „Herr, meine Zeit ist herum, nun wollte ich gerne wieder heim zu
meiner Mutter"....Mit einem großen Klumpen Gold bricht er auf und tauscht
nacheinander dafür ein: Pferd, Kuh, Schwein, Gans, Wetzstein. Dieser fällt ihm
schließlich in den Brunnen und er hat nichts mehr.
Unschwer ist zu erkennen, dass Hans an gerissene Tauschpartner geraten ist, die
satten Gewinn mit dem jeweiligen Tauschgutmachen. Doch bei jedem Tausch freut sich Hans und erkennt seinen
Vorteil. Als er merkt, dass ihm das Getauschte Beschwernisse bereitet, gibt er
es frohen Herzens wieder ab. Selbst der Verlust des Steines erfüllt ihn mit
Dankbarkeit und macht ihn „zum glücklichsten Menschen unter der Sonne".
Hans unterwegs
Unbeschwert und frei von aller Last kann er seinem Ziel entgegen eilen.
Hans vermittelt Lebenskunst. Denn wer Belastendes erkennt, es erleichtert
abschütteln kann und nicht in Wehmut gerät, lebt frei und zukunftsorientiert.
Märchenhafte Fremde
Wer freiwillig neu anfängt oder dazu gezwungen ist, stößt an Grenzen. Wer im
Märchen in die Fremde zieht, muss kämpfen gegen Drachen, Riesen, Hexen,
Zauberer.
Wie werden diese bezwungen? Die Starken scheitern meistens mit ihrem
Kräfteeinsatz, die chancenlosen Jüngsten oder die „Dummlinge" kommen vorwärts.
Wenn sie einem Schwachen unterwegs geholfen haben, dankt er ihnen mit einem
Hilfsmittel für die Gefahrensituation oder verrät ein wegweisendes Geheimnis.
Im Märchen „Die Sieben Raben" schneidet das Schwesterchen sogar seinen kleinen
Finger ab, um die Türe des Glasbergs zu öffnen. Mit diesem Opfer gelangt das
Mädchen zu seinen Brüdern und erlöst sie.
Verzauberte, Gequälte, Weggejagte, Gefangene werden befreit oder erlöst, die
Bösen bestraft. Die Guten erhalten den verdienten Lohn überreichlich. Sie
gewinnen einen Schatz oder ein Königreich. Sie feiern Hochzeit, auch dieses
Wort hat mit Heimat zu tun. Freude wird erlebt und geteilt.
Weggehen - ankommen
In diesem Spannungsfeld verlaufen auch innere Vorgänge unseres individuellen
Daseins. Sich daheim fühlen, erlebt dabei jede Person auf eigene Weise - sofern
ihr dieses Erleben geschenkt ist. Unsere Lebensumstände ändern sich zwar von
Generation zu Generation, inzwischen immer rascher. Doch den alten Bildern der
Märchen können wirnoch immer
nachspüren. Über Generationen wurden sie weiter erzählt und bewahrt. Ihre
Weisheit zum Lebensweg lässt sich heute wie gestern erschließen. Sie kann uns
anrühren und bewegen.
Heutiges Auswanderermärchen
Der aus Nordafrika stammende und in Holland schreibende Autor Haffid Bouazzas
verwendet in seinem Roman „Paravion" die Märchenform als Stilmittel. Der Roman
handelt von Auswanderern und Daheimgebliebenen mit den heutigen Problemen, weit
entfernt von einem märchenhaften Ende. „Irgendwo in Nordafrika liegt das Land Morea. Seine Bewohner sind arm und
müssen jeden Tag auf Neue ums Überleben kämpfen.....Da flattert ein Brief in
das Haus von Baba Luka..." Er kommt aus dem Land Paravion. Baba Luka und
einige Männer wollen auf ein paar altersschwachen Teppichen dem Ruf nach
Paravion folgen. „Die Männer flogen geradewegs in die Lilienfelder der
Morgendämmerung, welche eine Vorwegnahme war, von Paravions schwindelerregender
Umarmung...."