Verheizte Heimat
                                    von Anne Pöttgen
Sollen nüchterne Begriffe wie „Enträumung“ für Abreißen und Einebnen und „Neubeheimatung“ für die Umsiedlung in den Braunkohle-Tagebaugebieten davon ablenken, was in den Seelen der betroffenen Familien vor sich geht?

Umsiedlung

Illustration
Tagebau Hambach, Wikimedia Commons

Braunkohle muss im offenen Tagebau gewonnen werden, weil die Braunkohleschichten, die Flöze, nur von lockeren Erdschichten bedeckt sind. Anders als bei der Steinkohle, bei der die Flöze in festem Stein verlaufen, in den unterirdische Stollen vorgetrieben werden.
Der Erdboden muss abgetragen und die darauf bestehenden Ortschaften müssen umgesiedelt werden. Die Zahl der Menschen, die allein in der Niederrheinischen Bucht ihre Heimat verloren haben, wird auf etwa 35.000 seit dem Zweiten Weltkrieg geschätzt. Begonnen wurde hier mit dem Tagebau im frühen 19. Jahrhundert.
“Omas und Opas können dann nie zu ihren Enkelkindern sagen, da ist mein Heimatort,“ so heißt es in einem Schulaufsatz von Kindern, die den Tagebau am Niederrhein besichtigt hatten.


Was geht vor sich?
Aus eigenständigen Dörfern werden Neubaugebiete, oft als Vororte kleiner Städte in der Nachbarschaft. „
Viele Familiengeschichten, die in der baulich-räumlichen Struktur des alten Dorfes ihren Ausdruck fanden, sind verloren gegangen. Die Stellung einer Familie im Dorf, die sich am alten Ort unter anderem auch durch die Lage des Grundstücks und den Baustil ausgedrückt hat, soll sich auch am neuen Standort im Hausbau widerspiegeln.“ So in einem Text des Instituts für Volkskunde Uni Hamburg, Link im letzten Abschnitt. Die zuständigen Behörden meinen, im Sinne der Umsiedler zu handeln, wenn sie Vorschriften erlassen, dass im alten Stil gebaut werden muss. Das aber wird häufig als Bevormundung empfunden – man möchte im neuen Ort so leben, wie man selbst es will.
Die Vorgehensweise bei den Umsiedlungen ist in allen großen Abbaugebieten Deutschlands, der Niederrheinischen Bucht, in Mitteldeutschland und in der Lausitz gleich.

Wie geht es vor sich?
Obwohl alle Beteiligten Wert darauf legen, dass die Umsiedlung so schnell wie möglich vor sich geht, zieht sie sich doch über viele Jahre hin. Eigentümer oder Mieter, Landwirte und Gewerbetreibende, junge Familien oder Senioren haben voneinander abweichende Interessen. Schätzer sind unterwegs, um den Wert der Grundstücke, Häuser und Unternehmen festzulegen. Der Platz für die neue Heimat muss gefunden werden. Angestrebt wird immer eine gemeinsame Umsiedlung, die aber erst erfolgen kann, wenn alle Details festliegen.

Illustration
Das Städtchen Kaster

Oft geht die Umsiedlung oder vielmehr die Aufgabe des Heimatortes nicht ohne Widerstand über die Bühne. Im mittelalterlichen Ort Kaster zum Beispiel verbanden sich Bürger, Politiker, Landeskonservator und Regierungspräsident, um die Schaufelbagger vom Ort fernzuhalten. Aus der zweitkleinsten Stadt Deutschlands mit 731 Einwohnern wurde durch die Umsiedlung der weniger glücklichen Nachbarorte nun ein ansehnliches Städtchen mit mehr als 5.000 Einwohnern.

Theorie und Praxis
Im neuen Ort wird die Wohnbebauung geplant, Einzelhäuser, Reihenhäuser oder Mehrfamilienhäuser. Die Baugrundstücke sollen aber nicht brachliegen, sie werden vorübergehend als Gärten oder Weideflächen genutzt. Ein Dorfzentrum mit Gemeinschaftseinrichtungen etwa für Vereine wird geplant, ebenso wie gemeinsam zu nutzende Grünanlagen.
Der Bericht von Manfred Tomaczewski über die Praxis einer Umsiedlung in der Lausitz:
„Im «Herz» der Siedlung liegt der Dorfplatz mit dem Bürgerhaus und der «Hoffnungskirche». Alles wirkt neu. An das alte Kausche erinnern nur noch wenige Relikte wie das Kriegerdenkmal, die Gutsmauersteine, mit denen der Dorfplatz gepflastert ist, eine Pumpe und eine Linde. Das Bürgerhaus, das zur einen Hälfte aus Klinkersteinen besteht, soll die Geschichte des Dorfes symbolisieren. Die Klinker widerspiegeln das Vertraute, Vergangene. Der moderne Teil das Neue. Der Uhrenturm ist die Schnittstelle von Vergangenheit und Zukunft.“

Mitteldeutschland
Der Braunkohleabbau hat im Großraum Leipzig eine dreihundertjährige Tradition. Im Landkreis Geiseltal – westlich von Leipzig – wurde die Kohleförderung 1993 eingestellt, sie hinterließ ein Tagebaurestloch von 2.600 Hektar Fläche, hier entsteht der größte künstliche See Deutschlands. Halden, Seen und wüste Grünflächen erinnern an die langen Jahre der Ausbeutung.
Die Braunkohleindustrie ist weiterhin vom Nutzen der Braunkohle überzeugt: „Braunkohle ist der einzige heimische Energieträger, der in großen Mengen langfristig subventionsfrei zu wettbewerbsfähigen Konditionen bereitgestellt werden kann „ so die MIBRAG, die Mitteldeutsche Braunkohlen AG. Das hört sich plausibel an, erst recht, wenn immer wieder die Gaszufuhr aus dem Osten unsicher ist.
Aber es gibt natürlich auch die Stimmen, die auf den erheblichen CO2-Ausstoß hinweisen. Unbezweifelbar ist die gewaltige Leistung der Rekultivierung, die sowohl in der Kölner Bucht als auch eben in der Leipziger Gegend geleistet wurde.

Ein Ort namens Großgrimma
Illustration
Der Ortsteil Domsen 1996/97; Foto: Dietmar Winter

Südwestlich von Leipzig gibt es den Ort Großgrimma – noch. Menschen leben allerdings nicht mehr hier.
Seit Jahrzehnten war das Gebiet um den Ort Bergbauschutzgebiet, das heißt geplantes Kohleabbaugebiet. In diesen Jahren schon begann der Ort zu sterben, die Häuser wurden nicht mehr renoviert oder modernisiert, die jungen Leute zogen fort. Zu Zeiten der DDR war man nicht zimperlich, wer aufgeben musste, wurde in eine Neubauwohnung in der nächsten Stadt eingewiesen, die Entschädigung wurde auf ein Sperrkonto überwiesen, ein neues Heim zu bauen war nicht möglich.
Um nicht als Opfer zu gelten sondern um  selbst ihr Schicksal in die Hand zu nehmen, beschlossen die 800 Einwohner Großgrimmas 1992 die vorzeitige Umsiedlung. Innerhalb von sechs Jahren gelang der Umzug nach Hohenmölsen, einem Nachbarort.

Illustration
Der Ortsteil Domsen im Jahre 2004; Foto: Dietmar Winter

Heute steht der Riesenbagger am Ortsrand. Google-Maps zeigt noch die Ortsteile Grunau, Bösau und Deumen als letzte – allerdings leere - Orte vor dem großen Nichts.

Haidemühl und Horno
Haidemühl war eine Industriegemeinde mit 662 Einwohnern, lag 30 Kilometer südlich von Cottbus, Bundesland Brandenburg, Bundesrepublik Deutschland – so zu lesen bei Wikipedia . Haidemühl blickte nicht auf eine jahrhundertelange Geschichte zurück, der Ort verdankte seine Entstehung im neunzehnten Jahrhundert der Industrie – Kohle und Glas – und ihr verdankt er auch seinen Untergang im Jahre 2006.

Illustration
Bagger in Horno, Foto: Tobias Hardart,CC

Horno, niedersorbisch Rogow, war ein Dorf im Landkreis Spree-Neiße in der Niederlausitz, Land Brandenburg, so bei Wikipedia. Seit 1977 kämpften die Einwohner von Horno gegen die „Devastierung“ ihrer Heimat. Zunächst unter den Augen der Staatssicherheit, nach 1989 als Bürgerinitiative. Horno sollte vor der Abbaggerung gerettet werden, denn unter dem Dorf selbst liegt kaum Kohle. Ende 1999 lebten noch etwa 350 Menschen hier, das letzte Haus wurde 2005 geräumt.

Wie geht man damit um?
Sachlich wie Andreas Hofer in einem Leserbrief:“
Verhandlungsergebnisse werden immer in Verhandlungen erzielt, nicht danach. Das Angebot von Gemeinde und Vattenfall, nach den Verhandlungen einen Anwalt hinzuziehen zu dürfen, bringt im Endeffekt rein gar nichts. In den Verhandlungen sind wir auf uns allein gestellt, den Verhandlungsprofis von Vattenfall und der Überzahl der Gemeinderatsmitglieder innerhalb der Verhandlungskommission ausgeliefert.“
Oder:„Zurück bleiben in Schacksdorf wieder einmal die Obstbäume. Immer wenn die Bäume tragen, musst du gehen,“ sagt Bernd Husemann, die Augenlider gesenkt, zu sich selbst.
Dietmar Winter:„Von den Orten ist fast nichts mehr übrig, selbst das Wahrzeichen, die Kirche von Grunau (Ortsteil von Großgrimma), wurde abgetragen. Als Mitte der neunziger Jahre feststand, daß die Orte verschwinden werden, machte ich mir die Mühe, Ortsansichten sowie die Häuser und deren Bewohner systematisch zu fotografieren.“ Siehe Link.

Aus einem Blog zum Thema
Wo heute noch Häuser stehen, wird schon bald ein tiefes Loch klaffen. Und gerade das ist unheimlich: Das Dorf wird für immer und alle Zeiten ausgelöscht sein. Wäre dieser Ort durch einen Krieg oder eine Naturkatastrophe zerstört worden, könnte man ihn wieder aufbauen. Und wenn Otzenrath in den Fluten eines Staudamms versinken würde, könnte es als Ruinenstadt auf dem Grund eines Sees „weiterleben“. Aber ein Abriss mit anschließender Abtragung des Bodens bedeutet die totale Vernichtung – vollständiger kann ein Ort nicht aus der Weltgeschichte getilgt werden.“ Aus Rundgang durch ein sterbendes Dorf, siehe Link.

Links
Rundgang durch ein sterbendes Dorf
Wie die Bagger ins Rheinland kamen, aus einer Sendung des WDR
Zur Bedeutung von Raum und Lebensraum (Uni Hamburg)
10 Jahre Umsiedlung Großgrimma, Podcast
Fotosammlung Großgrimma, 1996 uns 2004
Fotos und Statistiken zum Abbau Welzow-Süd, Lausitz


 
< zurück