von Roswitha Ludwig Gefühle, das sind höchst individuelle Empfindungen.
Heimweh etwa kennen manche Menschen gar nicht, andere können krank davon
werden. Beschriebene Gefühle beurteilen Menschen verschieden als echt,
verflacht oder gar verkitscht.
Der Lindenbaum
"Am Brunnen vor dem Tore, da steht ein Lindenbaum".
Naturdenkmal Weil der Stadt, G. Stuber
So beginnt eines der bekanntesten Lieder. Das lyrische Ich hat hier einen
Lieblingsplatz zum Träumen, zum Erleben, zum Nachdenken. Die eingeritzten
Zeichen markieren bleibend diesen Ort
Doch das ist Vergangenheit. Jetzt eilt das Ich davon, flieht geradezu, sucht
keinen Schutz, keinen Schatten. Die Zeit des Glücks, der lieben Worte ist zu
Ende.
Und noch später: räumliche und zeitliche Distanz trennen vom Einst. Doch
innerlich ist das damalige Erleben noch bewegend. Das Ich hört noch das
Rauschen des Lindenbaumes und kann sich zurück sehnen: „du fändest Ruhe dort".
Seit ich dieses Lied im Altenheim höre und mitsinge, weiß ich um seine Wirkung
- auch heute noch. Viele Bewohner kennen es noch auswendig und ihr
Gesichtsausdruck wirkt gelöster, sie haben schon viele Abschiede hinter sich.
"Die Winterreise"
zu diesem Liederzyklus gehören außer dem Lindenbaum 23 weitere Gedichte. Den
melancholischen Inhalt signalisiert bereits der Titel. Das erste Lied,„Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich
wieder aus", lässt einen Wanderer in die winterliche Nacht aufbrechen mit der
Erinnerung an gewesenes Liebesglück. Das letzte „Der Leiermann", der frierend
außerhalb des Dorfes seine Leier dreht, unterstreicht die Unbehaustheit der
Menschen. Vielleicht ist er ein Symbol für den Tod. An ihn richtet der Wanderer
die Frage: „Soll ich mit dir gehen?" - Seine Wanderung wäre so zu Ende.
Der zeitgenössische Schriftsteller Peter Härtling hörte „Fremd bin ich
eingezogen" das erste Mal mit 15 Jahren als Flüchtlingsjunge in Nürtingen. Es
traf seine Situation. In dem Buch „Der Wanderer" erzählt er seine Geschichte
und die des Dichters und des Komponisten, Wilhelm Müller und Franz Schubert,
dazu die weiterer Wanderer in verschiedenen Zeiten. Sie haben Fremdheit
erfahren als Verfolgte, als Rastlose und innerlich fremd Gewordene.
Deutschland - ein Wintermärchen
nennt Heinrich Heine (1797-1856) seinen Reisebericht, verfasst im französischen
Exil. Sein Ich-Erzähler überschreitet die Grenze, erreicht die Heimat. Er muss
sich pedantische Durchsuchungen des Gepäcks gefallen lassen. Das gehört zum
Polizeistaat des Vormärz.
Beglückt hört er seine Muttersprache, fühlt neue Kräfte in sich, die ihn
stärken, atmet sogar ganz anders. Ihn bewegende Empfindungen beim Besuch
bekannter Orte durchbricht er mit ironischem Blick auf negative Realitäten. Die
Chiffre „Schmutz" und „Kot" begegnet öfter.„Das ist ja meine
Heimatluft!
Die glühende Wange empfand es!
Und dieser Landstraßenkot, er ist
der Dreck meines Vaterlandes!..."
Im vertrauten Hamburg gesteht er ein, dass er unter Heimweh leide. So sehne er
sich nach Torfgeruch, nach vertrauten Personen, nach dem blauen Rauch aus den
Schornsteinen, sogar nach Plätzen mit eher leidvoller Erinnerung. Von falschem
Patriotismus hält er nichts, doch er muss für sich eingestehen: „Ich glaube,
Vaterlandsliebe nennt man dieses törichte Sehnen."
Mensch und Natur
Sehnsucht ist ein Thema der Romantik. In J. v. Eichendorffs Gedicht: „Heimweh"
findet der Weggegangene Trost. Mit dem Blick auf die Sterne und im Hören auf
die Nachtigall kann er die Kluft zur Heimat und zur Liebsten überbrücken.
Eduard Mörike, selbst rastlos im Leben und unglücklich im Beruf, verleiht in
seinem Gedicht der Natur solche Kräfte nicht. Das Bächlein spricht zwar die
Person auf die Schönheiten an, doch diese nimmt alles in Düsternis wahr: „Aber
nicht wie dort. Fort, nur fort!"
Die Dichterin Agnes Miegel bleibt in
„Heimweh" berichtend. Sie beschreibt das frühe Jahr hier und dort in
Ostpreußen. Dort: später Winter, noch Schnee auf den Feldern, schlagende
Eisbrocken an morschen Brückenpfeilern. Doch es gibt Kinder, die das leise
Zwitschern der Lerchen hören. Allem Erwähnten in der verlorenen Heimat fügt sie
„mein" bei - „meiner Kinder Heimat".
Hier: Stare, frühe Blüten, das Ich wird von der angesprochenen heiteren
Frühlingsstimmung nicht berührt.
Sprache und Wort
Für viele Menschen ist die
Sprache in unserer heutigen Zeit zur Heimat geworden. Wohnorte und
Arbeitsplätze werden rasch gewechselt, doch Sprache wirkt verbindend in einem
Sozialgefüge.
Rose Ausländer und Mascha Kaleko, Lyrikerinnen des 20. Jahrhunderts, im Osten
Europas geboren, aus Deutschland und Österreich emigriert und wieder in den
deutschen Sprachraum zurückgekehrt, sehen Heimat in der Sprache.
Wie lebenswichtig das ist, drückt Rose Ausländer mit dem Begriff „Brotworte"
aus. Aus Muttersprache bildet sie „Mutterland". „Ich lebe in meinem Mutterland
Wort." Für die Zurückgekehrte gilt: „In der Fremde daheim", daraus wird
„Heimatfremde".
Mascha Kaléko lebte bis 1938 in Berlin. Sie erfuhr es, in verschiedenen
Lebensstationen nicht willkommen zu sein: als polnische Jüdin in Berlin, als
deutsche Jüdin in Israel, in Amerika galt sie als unbelehrbare Europäerin. In
dem Gedicht „Kein Kinderland" heißt es: „Wohin ich immer reise, Ich komm nach
Nirgendland".
Heimweh heute?
Menschen sind mehr denn je unterwegs, freiwillig und unfreiwillig. Ihre
sozialen Beziehungen wechseln rasch. Besser denn je wissen sie, was in der
Ferne auf sie zukommt. Dafür sorgen Techniken moderner Kommunikation.
Doch auch zum Leben im globalen Dorf gehört: Abschied nehmen und wieder neu
anfangen, begeistert sein von der Ferne und das Alte abschütteln. Wie sich die
Menschen dabei fühlen, lässt sich nur bedingt voraussehen. In eine
Heimwehsituation gerät nur derjenige, der auch Wurzeln hatte und Geborgenheit
kennt.
Und so gelten als Elemente des Heimwehs bis heute: Räumliche und zeitliche
Distanz trennen vom Einst. Doch innerlich ist das positiv besetzte Erleben noch
sehnsuchtsvoll gegenwärtig, so stark, dass das Jetzt nicht frei erlebt werden
kann. Die Verarbeitung und die Zuwendung zum Gegenwärtigen können zur
Überwindung von Heimweh führen. Sie geschieht bei jedem auf andere Weise.