von Daniel Meynen
„Prognosen
sind schwierig – vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen“
doziert der Philosoph vom Viktualienmarkt. Aber selbst, wenn „dem
Sterblichen die Zukunft vermauert“ ist, gibt es doch Fugen in
diesem Mauerwerk, durch die sich Umrisse erahnen lassen.
Erste
Mauerfuge: Demographische Entwicklung
Es
ist kein Geheimnis, dass die Zahl der Studienanfänger an den
Hochschulen kräftig zugenommen hat und weiter zunimmt. Ebenso wenig
verborgen ist, dass das Interesse der Älteren, sich an den
Hochschulen weiterzubilden, wächst. Die überfüllten Hochschulen
stehen seit längerem unter spürbarem finanziellem Druck. Erst
neulich meldete die Badische Zeitung (25.07.2009), dass an der
Universität Freiburg frei werdende Planstellen für sechs Monate
nicht besetzt werden können, weil die Energiekosten gestiegen sind
und nur über Einsparungen in Forschung und Lehre das Defizit an
Betriebskosten ausgeglichen werden kann. Vergleichbare Engpässe gibt
es in der Mehrzahl der deutschen Hochschulen.
S.-Hofschlaeger_pixelio.de
Die
Folge dieser Entwicklung ist, dass die Hochschulen sich ohne Wenn und
Aber auf die ihnen angestammten Aufgaben der Erstausbildung und der
Forschung konzentrieren und für einen Aufbau von Angeboten für
Ältere keine freien Kapazitäten haben. Weiterbildung ist zwar –
neben Lehre, Forschung und Ausbildung des Nachwuchses für Lehre und
Forschung – zur vierten Kernaufgabe der Hochschulen geworden, aber
de facto gilt das nur soweit, als eine Weiterführung oder Ergänzung
der beruflichen Erstausbildung auf Grund der kürzeren
Innovationszyklen notwendig ist. Wie gering das Interesse an der
nachberuflichen Weiterbildung tatsächlich ist, lässt sich daran
ablesen, dass sie im Positionspapier der Hochschulrektorenkonferenz
von 2008 zur Wissenschaftlichen Weiterbildung mit keinem Wort erwähnt
wird.
Thomas-Koelsch_pixelio.de
Was die große Studentenzahl betrifft,
wird sich die Lage erst um 2020 ändern. Die Demographen nehmen an,
dass sich ab diesem Zeitpunkt die Zahl der Studienanfänger
verringern wird, während sich die Zahl der aus dem Beruf ganz oder
teilweise ausgeschiedenen Älteren relativ erhöht. Es lässt sich
voraussehen, dass es dann zu einer Situation kommen wird, wie sie in
den 80er Jahren schon einmal bestand. Damals befürchteten die
Hochschulen einen Rückgang der Studienanfängerzahlen auf Grund des
Pillenknicks und, um die vermutete Minderauslastung ihrer Kapazitäten
auszugleichen, entwickelten sie als ein Novum: Programme für ältere
Studierende. Die Vermutung des Studierenden-Rückgangs hat sich zwar
in den Folgejahren nicht bewahrheitet, aber die damals entstandenen
Angebote für Senioren werden bis heute als PUSH oder PUR-Programme
(“public understanding of science and humanities”, “public
understandig of research”) weitergeführt. Sie dienen den
Universitäten vorwiegend zu Marketingzwecken. Sie sollen den
Bekanntheitsgrad bei den Zielgruppen erhöhen und die Hochschulen in
ihrer jeweiligen Region besser verankern. (So die HRK-Konferenz
2008).
Zweite
Mauerfuge: Universitätsentwicklung
Die
Hochschulen und Hochschulverwaltungen gleichen anderen großen
Administrationen darin, dass sie sich wie Übersee-Tanker nur in
weiten Zeitbögen manövrieren lassen. Nach 150 Jahren Humboldtscher
Universitätstradition, die den Aufklärungsidealen und der
Persönlichkeitsbildung verpflichtet war, ist eine neue deutlich
wahrnehmbare Gegenbewegung entstanden. Auf der Prioritätenskala der
Universitätszwecke sind Funktionalität der Wissensvermittlung,
Outputorientierung, Effizienzkontrolle und am Drittmittelaufkommen
überprüfbare Effizienz ganz nach vorne gerückt. Oberste
Richtschnur ist die ökonomische Verwertbarkeit des Wissens. Die
öffentlichen Geldgeber verlangen von den Universitäten Transparenz
und überprüfbare Effizienz der Mittelverwendung.
michael-berger_pixelio.de
An
die Stelle von beliebig ausdehnbaren Studiengängen ist mit der
Bologna-Konferenz der Europäischen Bildungsminister von 1999 ein
gestuftes Baukastensystem von modularisierten Studien-Bausteinen
getreten, die in zeitlichen Takten zu absolvieren sind. Dieses System
standardisiert die Studien, bezweckt die Vergleichbarkeit der
Studienleistungen und soll die Übergänge zwischen Studienrichtungen
und den europäischen Hochschulen erleichtern. Für Senioren, die dem
Humboldtschen Studienideal in den neu strukturierten Universitäten
folgen wollen, ist da nur noch wenig Freiraum. Sie können ihren
Bildungswünschen nur nachgehen, wenn sie sich ihre Brosamen als
Gasthörer nach individuellem Studienplan aus einzelnen
Lehrveranstaltungen herauspicken.
Eine Korrektur dieser
Universitätsentwicklung wäre erst dann zu erwarten, wenn der Staat
– im deutschen Hochschulsystem also die Länder – als der
wichtigste Financier der Hochschulen seine Prioritäten in der
Hochschulfinanzierung ändern und ein öffentliches Interesse an der
nachberuflichen Weiterbildung von hoch qualifizierten Älteren zeigen
würde. Aus eigenen Kräften sind die unterfinanzierten Hochschulen
hierzu nicht fähig.
Dritte
Mauerfuge: Generationenentwicklung
Die
Senioren, die in ihrer nachberuflichen Lebensphase jetzt zunehmend
zahlreicher an die Hochschulen kommen, gehören der Generation der so
genannten 68er an, d.h. den Jahrgängen 1938 – 1958. Ihnen ist
gemeinsam, dass sie als Kinder den fundamentalen politischen Umbruch
nach 1945 erlebt haben und ihre Jugend mit den kulturellen
Neuanfängen in den späten 50er und 60er Jahren (Rock und Beat)
zusammenfiel. Eine große Zahl von ihnen hat höhere Bildungs- und
Studienabschlüsse, als sie den beiden Weltkriegsgenerationen vor
ihnen zugänglich waren. Sie haben den kollektiven Wertewandel der
Nachkriegsjahre durchlebt und das sich daraus ergebende neue
Lebensgefühl in sich aufgenommen. Sie haben sich deutlich von der
Kriegsgeneration abgesetzt, deren Autoritätsanspruch durch die
Aufarbeitung des Nationalsozialismus jede Legitimation entzogen
wurde. Sie haben die Bedrohungen der neu gewonnenen Demokratie durch
autoritäre Tendenzen in der Politik wahrgenommen und sich in
Abhebung vom Lebensstil der Älteren eigene neue Lebensformen
geschaffen. Sie haben ein anderes demokratisches Bewusstsein als die
Vorgängergenerationen, sind protesterfahrener und kennen die
unterschiedlichsten Formen der Selbstorganisation.
Martin-N._pixelio.de
Es
lässt sich leicht voraussehen, dass sich diese neue Generation von
Senior-Studierenden keineswegs mit einem anspruchslosen Gaststudium
oder PUSH- und PUR-Programmen zufrieden geben wird. Die Älteren
wissen manches genauer und können einiges offenkundig besser als die
nachfolgende Generation von Wissenschaftlern. Sie wollen sich ihre
Themen und Forschungsprobleme selbst suchen und qualitativ
hochrangige Produkte entwickeln. Sie sind sich bewusst, dass es für
sie keinen Karrierezwang mehr gibt und der Konkurrenzdruck
untereinander nachgelassen hat. Sie sehen in der interdisziplinären
Kooperation eine lang herbei gewünschte neue Möglichkeit ihrer
Wissenserweiterung.
Zusammenblick
Nimmt
man diese drei verschiedenen Entwicklungslinien zugleich in den
Blick, so sieht man, dass die Chance einer grundlegenden Änderung
erst um das Jahr 2020 entstehen wird und dass das Jahrzehnt bis dahin
Inkubationszeit für einen neuen Typ von Seniorenhochschulen zu
verstehen ist. Erst dann werden die Universitäten und Hochschulen
aus eigenem Interesse in den Senioren eine neue Chance für sich und
ihre Eigenentwicklung erblicken. So ist jetzt die Zeit der Visionen
und der Experimente mit Modellversuchen.
S.-Hofschlaeger_pixelio.de
Vision
einer zweckfreien Bildungs- und Forschungs-Universität der
Älteren
Die
Zukunftsfragen unserer Gesellschaft betreffen alle
Generationen.
Daher gibt es einen Bedarf an den Fähigkeiten jeder
Generation.
Die geistigen Fähigkeiten der Älteren bilden
deren wertvollstes Kapital für die Gesellschaft.
Weiterbildung
bildet den Rahmen, in dem diese Fähigkeiten erschlossen werden.
In
Zukunft wird es eine deutliche Diversifikation der nachberuflichen
Weiterbildungsangebote für Ältere geben:
-
zweckgebundene
Bildungsangebote (zu Zwecken der allgemeinen Lebensführung und der
partiellen Weiterführung der Berufstätigkeit)
-
zweckfreie
Angebote nach Art einer Akademischen Volkshochschule (PUSH-,
PUR-Programme)
-
zweckfreie
Angebote einer Bildungs- und Forschungs-Universität für Senioren.
Diese
zweckfreie Bildungs- und Forschungs-Institution werden sich die
Älteren selber schaffen. Sie wird sich in der Hauptsache den
grundlegenden und allgemeinen Wissenschafts- und Lebensfragen unserer
Gesellschaft und deren Weiterentwicklung widmen.
Sie wird als
eigenständiger Zweig mit relativer Planungshoheit in die Universität
integriert werden.
In diesem Zweig wird ein Teil der für die
Jüngeren entwickelten Bildungs- und Studien-Module auch für Ältere
angeboten.
Das Bildungsstudium wird die Form eines
interdisziplinären Studium Generale und eines Studium Sapientiale
der Lebenserfahrung haben.
Die Forschungs-Universität wird in
Form von Sonderforschungsbereichen eigenständige Beiträge der
älteren Generation entwickeln: Beiträge zur Weiterentwicklung der
Wissenschaften und der Gesellschaft.
Dieser Universitätszweig
wird nicht nur vom Interesse der älteren Studierenden leben, sondern
in entscheidender Weise von der Mitwirkung der Emeritierten. Ihnen
bietet er die Chance, einen Teil ihrer Lehr- und
Forschungs-Tätigkeiten weiter zu führen und in den älteren
Studierenden erfahrene Kommunikationspartner zu finden.
Dieser
Universitätszweig wird allen Generationen offen stehen, aber seine
Programmplanung an den Bildungs- und Wissensinteressen der Älteren
ausrichten und sich an deren Zeitrhythmen orientieren.
Der
neue Universitätszweig wird in der Gesellschaft ernst genommen
werden, weil es ihm gelingt, sich eigenes Profil und eigene Stimme zu
schaffen und sich unter Rückbindung an den gesellschaftlichen Bedarf
selbst zu finanzieren.
Links
EFOS-Website
Netzwerk
der Interessenvertretungen des
Seniorenstudiums
Zur
Person des Autors:
"Daniel
Meynen. Jahrgang 1937. Dozent für Philosophie. In den 70er Jahren
beginnen ihn die wissenschaftlichen Fähigkeiten älterer Menschen zu
interessieren. Seit den neunziger Jahren betreibt er mit Älteren
Philosophie. Heute befasst er sich mit Institutionen, die die
Lebenserfahrung und die geistigen Fähigkeiten älterer Menschen
gesellschaftlich fruchtbar werden lassen können."
|