Erfahrungsberichte

Erfahrungen als Arbeitsvermittler

Verehrte Anwesende,

„Scusi“, leider muss ich mit dem Wörtchen „Scusi“ beginnen, mich entschuldigen. Denn es geht heute um 50 Jahre Anwerbevereinbarung und ich kann „soltanto“ nur über 48 Jahre selbst erlebtes amtliches  deutsch-italienisches Miteinander zu Ihnen sprechen.

Anfänglich habe ich italienische Arbeitskräfte geholt, vermittelt und 32 Jahre lang als Pressesprecher des Landearbeitsamtes über sie berichtet. Auch über gemeinsame Aktivitäten mit dem Generalkonsulat Stuttgart. Mehrfach haben wir zusammen versucht, arbeitslose Italiener für eine berufliche Qualifizierung zu gewinnen. und dafür, dass sie ihren Kindern in Deutschland eine gute Ausbildung angedeihen lassen sollen.

Seit dem Herbst 2002 habe ich in ganz anderer Weise mit den italienischen Migranten zu tun: als ehrenamtlicher Pressesprecher des Landesseniorenrates. Er vertritt die Interessen der 2,4 Millionen Menschen im Südwesten, die sechzig Jahre und älter sind. Darunter zunehmend Italiener, von denen manche fragen: Wo ist meine Heimat? Wie finde ich mich hier als Rentner zurecht? Bei diesen oft drängenden Problemen helfen auch die Seniorenräte.

Nun aber einige Stationen meiner 48 Jahre mit der Anwerbevereinbarung..

„Prego si accomodi-cosa vuole?“ Das sind die ersten italienischen Worte, die ich 1957 vernehme. Ich habe gerade als Stift beim Arbeitsamt Stuttgart angefangen und bin beeindruckt, wie zuvorkommend ein Arbeitsvermittler den Italienern in ihrer Heimatsprache einen Sitzplatz anbieten und sich nach den Wünschen erkundigen kann.
Das Kontrastprogramm wird mir leider ebenfalls geboten: eine befehlend ausgestreckte Hand und dazu in derbem schwäbisch: „nahocka, wa witt“ (hochdeutsch: Hinsetzen, was willst Du?). Ich geniere mich und nehme mir vor, es später besser zu machen.

Nach der Lehre bin ich ab 1960 in der Arbeitsvermittlung tätig und bald einer der Spezialisten vom „Bahnhofsdienst“. Mein  Taschenkalender, 44 Jahre alt, illustriert diesen Nebenjob. In der Woche vom 13.-18. Februar 1961 steht am  Montag: 16.15 Uhr (34 Italiener). Am Dienstag: 10.35 Uhr. erster Sonderzug (Rückrufe), am Mittwoch: 10.35 Uhr Sonderzug, um 11.40 Uhr der nächste Sonderzug. Am Donnerstag um 10.35 und 11.40 zwei weitere Sonderzüge. Zusammen also fünf innerhalb von drei Tagen. Zur Erklärung: das waren  die Italiener vom Bau, vom Forst und der Landwirtschaft, die man nach der Winterpause wieder angefordert hatte. 

Innerhalb kürzer Zeit standen auf abgesperrten Bahnsteigen jeweils 1 200 Italiener, die von ihren Betrieben abgeholt oder von uns auf die Anschlusszüge verteilt werden sollen..
Am Freitag nur ein normaler Transport um 11.05 Uhr (60 Neueinreisende). Aber selbst am Samstag geht es weiter: 16.15 Uhr (10 Kräfte) und um 17.57 Uhr noch 72. Daneben ist vermerkt: „einen Italiener zur Villa Berg in Baracke gebracht“. Im Klartext: ich hatte am Samstagabend gegen 19.00 Uhr einen Italiener übrig, der von seinem Arbeitgeber nicht abgeholt worden war. Gute Frage: Wie bekomme ich am Samstagabend heraus, wo  steht die Unterkunft für diesen Mann. Findigkeit war nicht nur an diesem Abend gefragt.

Ohne die Bahnhofsmission Stuttgart wäre ich oft hilflos gewesen. Von dort konnte ich manchem nicht erschienenen Padrone hinterher telefonieren oder Schlafplätze organisieren, wenn wegen Verspätung der letzte Anschlusszug abgefahren war.
Ich werde aber auch selbst auf Reise geschickt, hole in München Transporte ab. Sind Sie, sehr geehrte Festgäste, schon mal auf einem solchen Bahnhof mit etwa 60 bis 120 Menschen im Gefolge (alle mit viel Gepäck) unterwegs gewesen und haben dafür gesorgt, dass alle richtig einsteigen?

Die erste Bewährungsprobe wartete meist in Augsburg auf mich. Da sollten schon einige Kräfte aussteigen, möglichst die Richtigen. Die musste ich in den verschiedenen Abteilen suchen, finden und rechtzeitig mit dem Gepäck an den Türen postieren. Nach Ulm hatte ich  die mir Anvertrauten fast im Zehnminutentakt gruppenweise in Geislingen, Göppingen, Plochingen, Esslingen und Stuttgart aussteigen zu lassen.

Nicht nur einmal habe ich mich in die Situation meiner Italiener versetzt. Meistens dürfte es deren erste Bahnfahrt gewesen sein, dazu gleich ins Ausland. Und wenn ich meinen  Transport in Stuttgart oder Frankfurt aufgelöst hatte, mussten viele alleine weiterfahren. Ich konnte sie lediglich in den richtigen Zug setzen und deutsche Mitreisende bitten, den Italienern zu helfen, an der richtigen Station auszusteigen. Übrigens, zur Ehre meiner Landsleute, das hat nie jemand abgelehnt.

Bevor ich zur Bundeswehr musste, beschloss die Leitstelle in München, für meine treuen Dienste bekäme ich diesmal den schönsten Transport. Nur 59 Mitreisende, lediglich in Koblenz sowie in Köln müssen zwei aussteigen. Mit den anderen endet die Reise in Essen. Die neuen Mitarbeiter für den Bergbau kommen alle von der Insel Sardinien und  sind entgegen dem Klischee für Italiener nicht klein sondern von großem Wuchs.
Sie sollen ja auch schwerste körperliche Arbeit leisten. Wir sind gemeinschaftlich  acht Stunden im Zug: Ich muss alle Abteile kennen lernen, erstmals köstlichen sardischen Ziegenkäse aber auch vom  mitgebrachten Schinken versuchen. Beim Vino-Angebot passe ich jedoch. Ich trage ja die Verantwortung und bin als Deutscher  mehr auf Bier geeicht. Trotz meiner beschränkten Italienischkenntnisse eine äußerst unterhaltsame Fahrt. Ganz wohl ist mir aber nicht. Ich denke an morgen. Dann sollen diese Menschen aus dem sonnigen Sardinien, bisher Hirten, Landarbeiter und Bauhelfer, künftig beim Morgengrauen in den Schacht einfahren, in 500 oder 1000 Metern Tiefe bei trüben Grubenlampen arbeiten und je nach Jahreszeit erst in der Dunkelheit wieder zur Unterkunft gelangen.

Zur Belohnung für mein Engagement bei den Italienertransporten schickt mich auch das Landesarbeitsamt vor der Bundeswehr auf eine besondere Tour. Wir schreiben das Jahr  1961. Als 19jähriger darf ich auf Auslandsdienstreise nach Mailand. Das erste mal überhaupt nach Italien. Ausgestattet bin ich mit einem amtlichen und zweisprachigen Schreiben, dass mich  die italienischen Behörden sowie die Ferrovia Stata Italiana bei meinen Dienstgeschäften unterstützen sollen. Als junger Mann verlege ich die amtlich vorgesehene Anreise  auf die Nacht vorher. Da ich erst in der übernächsten  Nacht um 01.30 Uhr mit 117 Italienern reisen und um 11.05 Uhr in Stuttgart ankommen soll,  kann ich zwei Tage lang Milano erkunden. Magnifico. Und mit meinem Transport klappt alles bestens.

Von der Bundeswehr zurück, werde ich 1963 Arbeitsvermittler. Alle Branchen klagen über Arbeitskräftemangel. Im Jahr zuvor hatte man ganze 4 314 Arbeitslose in Baden-Württemberg gezählt. 102 670 offene Stellen standen gegenüber. Speziell für die Vertreter der Politik hier im Saale nenne ich eine weitere Zahl, sie lautet: 0,1 Prozent. Das war damals die Arbeitslosenquote. Ich wiederhole mit Genuss: zuerst eine schöne runde Null und nach dem Komma steht lediglich die eins.

Trotzdem muss ich manche Italiener, die hoffnungsvoll auf gut Glück ins deutsche Mekka des Arbeitsmarktes angereist sind, enttäuschen. Da sitzen erwartungsvoll Calzolaios, also Schuhmacher vor mir und suchen „Lavoro con Stanza“, eine Stelle mit Unterkunft. Zimmer und Wohnungen sind jedoch Mangelware. Dazu kommt,  die beiden damals in Stuttgart vorhandenen Schuhfabriken wollen Mitarbeiter für die Maschinen und keine Reparaturschuhmacher. Schuhmacher ist eben nicht gleich Schuhmacher (wie bei den Rennen der Formel 1 in Monza). In vielen Fällen bleibt als letzter  Ausweg: Manovale Edile, Hilfsarbeiter auf dem Bau. Diese Branche stellt damals  fast alles ein und bietet Unterkünfte. Teilweise sind die jedoch an der Grenze des Zumutbaren.

Für italienische Friseure  bieten sich bessere Chancen, aber auch nur, wenn sie etwas deutsch können. Da erlebe ich einen „Rückschlag“ besonderer Art. Ich  erinnere mich mit Schmunzeln:  Ein Friseurmeister kommt persönlich zu mir ins Amt und gesteht, der Figaro, den ich ihm vermittelt hätte, der habe die Haare exzellent geschnitten. Seine Qualitäten in anderer Hinsicht müssten aber  wohl ebenfalls exquisit gewesen sein. Zitat „Der Giovanni  hat die drei  Mädla im  Damasalon völlig durcheinander gebracht, über Wochen hinweg hat er Ihnen die Köpfe verdreht.“ Nun habe er ihm kündigen müssen. Er hoffe, dass dort bald wieder Ruhe einkehre. Ob ich ihm denn nicht mit einem deutschen Friseur helfen könne.

Leider gab es ab und zu ernsthafte Probleme, bei denen ein deutscher Arbeitsvermittler nicht mehr weiter wusste. Dann half nur noch die Adresse der Missione Cattolica. Mit Schwester Clothildis und dem erfrischend weltlichen Geistlichen Don Mutti bildete diese Einrichtung für uns den großen Rettungsanker. Leider mussten wir ihn oft auswerfen. Ich nutze diese Gelegenheit sehr gerne, um dem jetzigen Prälaten Mutti öffentlich zu danken. Sie beide waren für uns in sehr vielen Fällen so etwas wie die Vierzehn Heiligen Nothelfer.

Nachdem ich bei und mit den Italienern viel gelernt hatte, schickte man den Eckardt im Herbst 1965 nach Griechenland zur Anwerbekommission.

Auch dort das schöne Gefühl, vielen Bewerbern helfen zu können, dass ihr Leben eine berufliche und finanzielle Perspektive erhält. Etwas bedrückend hingegen die Frage: aus welcher Umgebung verpflanze ich Menschen und ihre Angehörigen in ein nicht nur klimatisch kaltes Land. Dazu passt ein für mich deprimierendes Erlebnis, das aber wohl „wirtschaftswunderzeitgemäß“ war. Aus Deutschland bekommen wir ein Fernschreiben mit dem Text: „Bitte sofort zwei Stück Hilfsarbeiter“. Solche oder ähnliche Anforderungen dürften auch bei den Anwerbedienststellen in Verona bzw. Neapel angekommen sein. Für mich als jungen Kerl eine bittere Erkenntnis:
Damals wurden lediglich Arbeitskräfte erwartet, die mit Händen oder Füßen Hebel und Maschinen bedienen, Lasten transportieren usw. Auf diesem Stand ihres Könnens hat man leider viele dieser Menschen und das viel zu lange gehalten. Damit war deren spätere Arbeitslosigkeit  teilweise programmiert.

Nach anderthalb Jahren in Griechenland bietet mir das Landesarbeitsamt eine interessante Stelle. Ich sage ja, volontiere bei der Zeitung, lerne Pressearbeit und bin daneben im neuen Aufgabengebiet Kampf gegen illegale Beschäftigung tätig. Sie wird hauptsächlich auf dem Rücken der ausländischen Arbeitnehmer, auch vieler Italiener ausgetragen.

1970 werde ich der offizielle Pressesprecher und darf 32 Jahre lang bei Rezessionen, Ölkrise und Wiedervereinigung die vielen Facetten auf dem Arbeitsmarkt miterleben und kommentieren. Immer begleiten mich die Themen der Ausländerbeschäftigung: Vom großen Medienereignis am 5. August 1970, der Ankunft des  500 000sten Gastarbeiters in Baden-Württemberg, über den Anwerbestopp und  1984 das Angebot für Rückkehrprämien an Gastarbeiter, wenn sie in die Heimat gehen bis zur neuerlichen Kehrtwendung, zur Green Card. Wechselvolle Zeiten!

Mir wird immer deutlicher: ich habe mitgeholfen, dass viele Nichtdeutsche bei uns  eine Arbeit, aber wohl nicht alle eine Heimat gefunden haben.

Das ganz persönliche Fazit für mich lautet: Die deutsch-italienische Anwerbevereinbarung und die später folgenden Abkommen haben ab 1957 mein berufliches Leben ganz entscheidend geprägt.

Nun versuchen die Eheleute Eckardt in ihren diversen Ehrenämtern bei den älteren Migranten, aber auch deren Kindern und Enkelkindern etwas von dem wieder gut zu machen, was die Politik teilweise versäumt hat.

Wir wollen mit diesem Engagement aber auch ein wenig von dem zurückgeben, was wir im Ausland und zu Hause beim Umgang mit unseren zugewanderten Mitbürgern alles an Positivem erleben durften.. Für diesen Vorgeschmack auf ein vereintes Europa danke ich zuerst „meinen“ Italienern, aber auch den anderen hier vertretenen Nationen, mit denen ich es zu tun hatte.

Meine Damen und Herren, ich bewundere Ihre Geduld beim Zuhören und sage dafür mille Grazie. Zusammen mit Ihnen freue mich auf das weitere Programm, finalmente aber erst mal  auf einen Espresso, Cappuccino oder Cafe con Latte, die wir auch dem wunderschönen Lande des heutigen Gastgebers verdanken. Mi piace.


Wenn sie mit dem Autor/Autorin des Textes in Kontakt kommen möchten, wenden Sie sich bitte an leserbrief@europa-erleben.net



eingereicht von
Hans-Jörg Eckardt
Kategorie
Nach Deutschland gekommen
Datum
16.07.2009


Zurück

Verwandte Artikel

Keine verwandten Artikel vorhanden.