Erfahrungsberichte

Meine Erfahrungen als Nachhilfelehrerin

Tolga

Tolga ist Merts Bruder. Er ist acht Jahre alt  und geht in die zweite Klasse der Grundschule. Er hat ein schönes rundes Gesicht mit braunen Augen und langen Wimpern. Sein Bruder sagt: „Tolga ist dick“.  Das stimmt aber so nicht. Er hat eine kräftige Figur und wenn er geht, hält er sich auffallend gerade. Er ist stolz und selbstbewußt, aber auch schnell gereizt und gelegentlich bockig.

Was Tolga gefällt
Tolga will aktiv sein. Zu mir kommt er mit dem Fahrrad oder neuerdings mit den Inline-Scates. Er ist geschickt,  z. B  kann er die Kette seines mehrgängigen Fahrrads  gekonnt auf das Zahnrad bringen. Einmal meinte er: „Ich liebe Gartenarbeit“, als  er mich beim Jäten im Garten gesehen hatte: „Kann ich dir helfen?“  Ich habe ihm dann eine kleine Hacke gegeben. Es hat aber nicht lang gedauert, bis es ihm langweilig wurde. Ein anderes Mal hat er auf meinem Regal Staub entdeckt, den wollte er gleich abwischen. Am nächsten Tag hat er  kontrolliert, ob noch alles in Ordnung ist.

Was die Eltern wünschen
Tolgas Eltern möchten, dass Tolga Hilfe bekommt. Sie können ihm nicht bei den Hausaufgaben helfen. Immer wieder schreibt Tolgas Klassenlehrerin eine Bemerkung ins Heft, weil Tolga im Unterricht nicht mitkommt. Die Mutter hat mich über Mert gefragt, ob ich ihn auch unterstützen könnte. Tolga hat Probleme beim Lesen und Schreiben. „Mathe“, sagt er, „ist mein Lieblingsfach“, aber  wenn es etwas schwieriger wird, gibt er auf. Der Vater stellt ihn gelegentlich zur Rede, wenn er hört, dass Tolga sich geweigert hat, zusätzliche Übungsaufgaben zu machen.

Was ich mir wünsche
Ich wünsche mir, dass Tolga einsieht, dass die Hausaufgaben  in einer sauberen und leserlichen Schrift zu machen sind.  Dazu gehört z.B., dass die Seiten in seinem Heft vollständig beschrieben sind. Dasselbe gilt für seine Mathe-Hefte.
Als Leseübung  sucht er sich gern kurze Texte aus. Er muss aber auch längere Geschichten lesen und verstehen können. Einmal meinte er: „Ich brauche  nicht zu lesen. Ich kann doch fernsehen.“
Kleine Sätze nach Diktat zu schreiben gestaltet sich nicht leicht. Oft verwechselt er die Buchstaben “b“ und  „d“ und  „g“  und  „k“ oder er weiß nicht mehr, wie bestimmte Buchstaben  z. B.  „q“  (qu) geschrieben werden.
Es gibt aber auch Lichtblicke, wenn er  bei den Mathe-Aufgaben  auf Rückfrage antwortet: „Das ist doch klar. Das weiß ich doch!“ Einmal stellte er auch fest, dass der Laut „k“ oben gesprochen wird und der Laut „g“ unten. Das verlangt allerdings genaues  Hinhören. Ein andermal sagte er: „Das habe ich mir heute schon aus dem Unterricht gemerkt.“ Er meinte die Unterscheidung von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Wenn ich ihn  bei dieser Gelegenheit lobe, ist er  bereit,  weitere Übungen zu machen und nicht dauernd auf die Uhr zu schauen.
In diesen Tagen hat mich Tolga überrascht. Als er kam, hielt er die Hände auf dem Rücken und sagte: „Rate, was ich hier habe.“ Ich zuckte mit der Schulter, da hielt er mir mit strahlendem Gesicht eine Osterglocke entgegen.


Mert

Mert ist elf Jahre alt und geht in die vierte Grundschulklasse. Seit gut einem Jahr helfe ich ihm bei seinen Hausaufgaben. Seine Klassenlehrerin erzählte mir von ihm und ich war bereit, ihn täglich zu betreuen. Damit meine Arbeit nicht als wertlos betrachtet würde, haben wir einen Stundenpreis von 1 € verabredet. Dabei nehmen wir die „Stunden“ nicht wörtlich.

Wer ist Merts Familie?
Seine Eltern kommen aus der Türkei. Der Vater hat einen deutschen Pass, die Mutter einen türkischen. Während der Vater deutsch  auch mit den Kindern spricht, beherrscht die Mutter nicht die Sprache. Sie kann sich nur mühsam auf Deutsch verständigen. Sie ist seit 15 Jahren in Deutschland, besucht aber erst seit zwei Jahren einen Deutschkurs in einer Schule für Ausländer. Mert hat einen Bruder, Tolga. Die beiden sprechen nur unvollkommen türkisch.
Der Vater ist seit Jahren arbeitslos. Er hatte vor gut einem Jahr einen Unfall mit dem Fahrrad und kann seitdem, trotz Operationen, seine Hände nur bedingt benutzen.

Wer ist Mert?
Mert gehört zu den größeren Jungen in seiner Klasse. Er ist sportlich und schlank. Er spielt Fußball im Verein und geht regelmäßig zum Training. Er liebt es, kleine Scherze zu machen und ist schauspielerisch begabt. Dann blitzen seine braunen Augen und er  verzieht den Mund. Er hat einen natürlichen Charme und weiß ihn auch zu nutzen. Er muss immer mit seinen Händen spielen. Darunter leiden seine Schreibwerkzeuge. Der ergometrische Füller hatte nur eine kurze Lebensdauer.
Seit einiger Zeit hat er ein Bleistiftmäppchen und hält es auch in Ordnung.

Wie arbeiten wir zusammen?
Zuerst besprechen wir, was als Hausaufgabe zu machen ist. Mert berichtet und ich vergleiche seine Angaben mit den Daten, die mir seine Lehrerin für die ganze Woche aufgeschrieben hat.
Ich möchte, dass er sein Heft sauber führt. Die Schrift soll gut leserlich sein und die Heftseite ausgefüllt werden. Wenn etwas nicht gelungen ist, zum Beispiel beim Abschreiben in der Schule, benutzt er die Seite nicht weiter und beginnt eine neue.
Die Lehrerin hat ihm erlaubt, weiterhin in Druckschrift zu schreiben. Mit der Schreibschrift kam er nicht zurecht.
Die Rechtschreibfehler passieren  nicht nur im Diktat, sondern auch beim Abschreiben. Ich frage dann: „Hast du genau hingeschaut?“  Er muss Buchstabe für Buchstabe vergleichen.
Mathematikaufgaben kann er ohne meine Hilfe machen. Er will im Zeugnis auf eine „Drei“ kommen.
Deshalb lesen wir nach den schriftlichen Aufgaben. Seitdem er zu mir kommt, hat sich das Lesen verbessert. Schwierigkeiten gibt es bei Wörtern, die nicht zu seinem Alltagswortschatz gehören. Den Inhalt der Texte erfasst er und kann ihn auch wiedergeben. Er spricht fließend deutsch, nur die genauen Artikel und die richtige Deklination der Substantive als Objekt bereiten ihm Schwierigkeiten.
Manchmal gibt es auch kleine Aufgaben für Englisch. Die Schüler der vierten Klasse erhalten seit einiger Zeit auch Englischunterricht. Der ist mehr spielerisch aufgebaut und beschränkt sich auf kleine Dialoge. Die Schüler erhalten für zu Hause ein Arbeitsblatt, auf dem neben dem englischen Satz die deutsche Übersetzung steht. Die korrekte Aussprache fällt Mert nicht leicht. Ich sage dann: „Schau auf meinen Mund und wiederhole was ich gesagt habe.“
Manchmal sage ich: „Mert, ich habe den Eindruck, dass ich gar keinen Erfolg habe.“ Dann meint er ganz bestimmt: „Doch, ich habe mich doch schon verbessert.“

Das waren meine Erfahrungen und Überlegungen im März 2007.
Mittlerweile bin ich weggezogen.

Mert und Tolga – Epilog

Mert hat die Grundschule verlassen und ist jetzt in der Gesamtschule. Wie es ihm dort geht, weiß ich nicht.
Tolga kommt weiter jeden Nachmittag mit seinen Hausaufgaben zu mir. Wir üben neben kleinen Diktaten vor allem das Kleine-Einmaleins. Den Vater hatte ich gebeten, ebenfalls die Reihen mit Tolga zu üben. Es wurde aber nichts daraus, weil nach Tolgas Aussage der Vater fernsehen müsse. Sein Beschäftigungsverhältnis hatte nur wenige Monate gedauert.
Als es feststand, dass ich umziehen und meine Hilfen aufhören würden, fragte Tolga immer wieder: „Warum bleibst du nicht hier?“  Wahrscheinlich ahnte er schon, dass er dann ohne Hilfe bleiben müsse.
So kam es auch. Von einer Kollegin erfuhr ich, dass Tolga in der von der Schule angebotenen Nachhilfe nicht arbeitete und sogar aufsässig wurde. Das wunderte mich nicht, weil er schon vor meiner persönlich für ihn angemessene Hilfe, immer wieder zusammen mit seinem Vater in die Schule geladen wurde, weil es Zank und Streit mit den Schülern gegeben hatte. Ich bin einige Male auch dabei gewesen.
Bei meinem Abschied schlug ich Tolga vor, mir Mails zu schicken. Es gab einen PC im Haus.
Ich würde seine Texte dann korrigiert zurücksenden. Und er schickte mir seine Mails, allerdings in einer sehr eigenwilligen Rechtschreibung. Immerhin konnte er mir mitteilen,  welche Veränderungen es mit meinem Haus und Garten gegeben hätte. Tolga aber reagierte nicht auf  die von mir korrigierten Mails. Ob sie nicht zu ihm gelangten oder gelöscht wurden? Ich weiß es nicht. Er ist ja nicht der einzige Nutzer. Bei einem Mitschüler beschwerte er sich, dass ich nicht auf seine vielen Mails geantwortet hätte.
Dennoch erhielt ich von Zeit zu Zeit eine Mail, bevor die Korrespondenz ganz einschlief. In seiner letzten Mail schrieb er: „Ich vermisse dich, und Mert auch.“
Inzwischen ist die Familie ebenfalls weggezogen. Es habe Probleme mit den Nachbarn gegeben.
Von der Kollegin erfuhr ich, dass Tolga in den letzten Wochen laufend von Schulpsychologen geprüft worden sei. Ich weiß nicht, ob man ihn in eine Sonderschule schicken will. Das würde ich jedoch sehr bedauern. Tolga kann sich mühelos mittteilen, und er hat einen sehr guten und umfangreichen Wortschatz.


Wenn sie mit dem Autor/Autorin des Textes in Kontakt kommen möchten, wenden Sie sich bitte an leserbrief@europa-erleben.net



Erdmute Dietmann-Beckert
eingereicht von
Erdmute Dietmann-Beckert
Kategorie
Ehrenamtlich im In- und Ausland tätig sein
Datum
29.07.2009


Zurück

Verwandte Artikel