Erfahrungsberichte

Eine europäische Freundschaft

Isola del Giglio

1959 gab es noch kein Internet. Alles, was wir von der Insel Giglio wussten, waren fünf Sätze aus einer kleinen Beschreibung des Toskanischen Archipels vom Italienischen Fremdenverkehrsamt. Wir waren vier 19jährige Burschen aus Gottmadingen, einem kleinen Industrieort westlich des Bodensees, unmittelbar an der Schweizer Grenze.

Von Porto Santo Stefano brachte uns das Schiff an dem sonnigen Augusttag nach Giglio Porto. Dort stiegen wir mit unseren Zelt- und Rucksäcken in den wartenden Bus. Es ging steil hinauf nach dem mittelalterlichen Giglio Castello und von dort aus wieder in langen Schleifen hinunter nach Campese. Unterhalb der grünen Abhänge breitete sich bis zum Horizont ein strahlendes blaues Meer vor uns aus.

In Campese wurde der Bus von einer Traube meist junger Leute erwartet. Kurz nach unserer Ankunft wurden wir eingeladen, unsere Zelte neben anderen unter Olivenbäumen aufzustellen. Daneben grenzten Rebgärten an und hinten begann wildes grünes Gelände.

Campese bestand damals nur aus ein paar Häusern, die man an der Hand abzählen konnte. Eine Trattoria, ein kleines Hotel, ein paar Privathäuser, eine Bar und in der hinteren Ecke der Bucht eine alte Pyritmine.
Die jungen Burschen und Mädchen kamen hauptsächlich aus Rom und aus Prato bei Florenz, ein paar noch aus Terni. Dann hatten noch der Basler Urs und zwei Stuttgarter ebenfalls den Weg auf die Insel gefunden. Die Jungs zelteten, die Mädchen übernachteten in Privatzimmern. Unter den Römerinnen waren drei Schwestern, deren Eltern eines der Privathäuser gehörte.

Es wurden drei unvergessliche Wochen. Die jungen Italiener integrierten uns ganz selbstverständlich in ihre Gemeinschaft, trotz der vorhandenen Sprachbarrieren.
Die Tage verbrachten wir mit Baden, mit ein paar Fußmärschen, mit viel Reden, und mit viel Trinken und Essen.  Am Mittwochabend war auf der Terrasse der Bar Tanz. Ein Plattenspieler machte die Musik. In der einfachen Trattoria servierte uns Beatrice, die Wirtin, frisch von den Fischern Cacciuco, den Meeresfrüchteeintopf der Toscaner,


Im Jahr darauf fuhr ich im August von neuem nach Giglio. Diesmal mit  meinem Freund Walter. Piero aus Prato, mit seiner Schwester Anna, waren wieder da. Auch die  Mädchen aus Rom, und ein paar neue Leute dazu. Als wir nach drei neuen schönen Wochen Abschied nahmen, meinte Piero, ich solle doch zu Ostern zu ihm nach Prato kommen.

Auch 1961 verbrachten Walter und ich die Sommerferien wieder in Giglio. Piero hatte ein kleines Taschenradio, mit dem er auch Opernübertragungen hörte.
An einem Abend sagte er mir, dass in Berlin eine Mauer zwischen Ost und West gebaut werde.


 
Karwoche in Prato

Eine Woche vor Ostern 1961 fuhr ich also zu Piero nach Prato. Er führte mich zu den schönsten Plätzen und Gebäuden in Florenz. Von San Miniato schauten wir auf die Stadt hinunter. Ich lernte Persönlichkeiten kennen: Giotto, Cimabue, Botticelli, Fra Angelico, Filippo Lippi, Savonarola, Lorenzo di Medici, Curzio Malaparte und viele mehr. Die gastfreundliche Herzlichkeit seiner Eltern war wie ein wohltuendes Bad. Ich genoss das Glas Kaffee beim Aufwachen, das seine Mutter mir ans Bett brachte.   
Der Ostersonntag wurde mit einem festlichen Essen gefeiert, bei der auch zwei gesprächige Tanten aus Florenz eingeladen waren. Am Ostermontag chauffierte uns sein Vater ans Meer nach La Spezia. In einem Ort der Cinque Terre führte er uns in ein Restaurant, in dem berühmte Schauspieler verkehrten.



Heidelberg – Sonthofen


1962 absolvierte Piero einen Sommerkurs an der Universität Heidelberg. Anschließend besuchte er mich in Sonthofen im Allgäu, wo ich eine mehrmonatige Tbc-Kur absolvieren musste. Wir machten zusammen Ausflüge und Bergwanderungen und noch heute wiederholt er gern den Satz jener jungen hübschen Bus-Schaffnerin: „Noch jemand ohne Fahrschein bitte“.
Aber nicht lange danach rezitierte er beim Autofahren ganze Passagen aus dem Faust. 


Mit den Jahren

Die Zeit lief weiter. Piero beendete sein Medizinstudium und spezialisierte sich als Neurologe. Meine Lebenswelt war anders. Ich hatte eine kaufmännische Ausbildung und arbeitete in großen Industrieunternehmen als Datenverarbeitungsspezialist

In manchen Jahren trafen wir uns, in manchen Jahren nicht. Wir heirateten, unsere Freundschaft dehnte sich auch auf unsere Frauen aus. Die Kinder kamen auf die Welt  Wir besuchten uns gegenseitig, wir verbrachten Ferien am Meer miteinander. Die große Staufer-Austellung in Stuttgart schauten wir gemeinsam an.



Bellevue in Kreuzlingen

Eines Tages, 1978 oder 1979, bat mich Piero, einen Kontakt mit dem
Sohn von Dr. Ludwig Binswanger herzustellen Tatsächlich saßen wir einige Wochen später in der berühmten Klinik Bellevue in Kreuzlingen, beim Sohn des Schweizer Psychiaters. Piero bereitete sich nämlich auf eine Doktorarbeit in Philosophie vor. Die Grundlage seiner Arbeit war das philosophische Hauptwerk „Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins“ von Ludwig Binswanger.
1980 beim abschließenden Kolloquium in der Universität in Florenz durfte ich dabei sein. Dass ich davon kaum ein Wort verstand, hat meiner Freude keinen Abbruch getan.
.


Im dritten Lebensalter

Inzwischen sind genau 50 Jahre vergangen, seit jener ersten Begegnung auf Giglio.
Die italienische Sprache ist mir inzwischen ein lebenslanges Hobby geworden.

„Cristo si è fermato a Eboli“ ist eines meiner ersten Bücher gewesen, die ich auf italienisch gelesen oder eher erarbeitet habe. 
In den letzten Jahren lese ich mit großem Interesse, was Norberto Bobbio geschrieben hat. Besonders bewegt hat mich Tiziano Terzani, wie er als welterfahrener Journalist mit seiner Krebserkrankung umging  und wie er sich auf seinen Tod im Jahre 2004 vorbereitete („Noch eine Runde auf dem Karussell“ und „Das Ende ist mein Anfang“). 

Bei Piero ist seinerseits ein sehr großes persönliches Interesse für Dietrich Bonhoeffer entstanden, für sein Leben wie für seine Theologie.

Wenn ich um 7 Uhr morgens Zeit habe, schaue ich die Presseschau auf RAI 3 mit Corradino Mineo an.  Und abends um 20 Uhr immer wieder die Tagesschau auf RAI 1 anstatt auf ARD. Und natürlich nutze ich die multimedialen Möglichkeiten des Internets.
 

Mir kommt die italienische Sprache wie ein zweites Haus vor, in dem ich leben darf.  
Ein Palazzo, in dem ich durch viele Zimmer und Säle schlendern kann.
 
Und was ich noch sagen wollte, Piero und ich sind inzwischen auch Großväter.


Wenn sie mit dem Autor/Autorin des Textes in Kontakt kommen möchten, wenden Sie sich bitte an leserbrief@europa-erleben.net



eingereicht von
Roland Huber
Kategorie
Europa (gemeinsam) erkunden
Datum
26.11.2009


Zurück

Verwandte Artikel

Keine verwandten Artikel vorhanden.