Erfahrungsberichte

Mein interkultureller Schrank

Holzschälchen, rot-schwarz-gold bemalt, Nachtigallen aus Ton, eine Teetasse aus Porzellan mit dem Aufdruck MEBIK, - alles liebe Geschenke, unlängst von russischen Freunden aus Kursk als Gastgeschenke mitgebracht, wohin damit? Unser Wohnzimmer, modern eingerichtet, viele Holzregale, eine alte Vitrine und ein noch älteres Klavier, das sich gut als Ablageplatz eignet, ist schon übervoll mit Büchern und Gegenständen, die uns gefallen, die wir geschenkt bekommen, gesammelt, am Strand gefunden haben, das Küchenbord auch. Also erst mal Frage des Platzes, aber nicht nur – sondern auch Frage des Geschmacks. Die bunt angemalten Schälchen, Madruschkas etc., die ich in Russland so schön und passend finde wie in Polen die Stoffpüppchen und Häkeldeckchen, in Spanien die Porzellanfiguren und in Portugal die bunt bemalten Gallo (Hahn), in den Stil unserer Wohnung passen sie nicht, schon gar nicht in diesem Gemisch.
Welchem dieser Gegenstände, die bei uns leichthin als „Kitsch“ bezeichnet werden, sollte ich die Priorität geben, aufbewahrt zu bleiben? Alle entsorgen oder zu einem Flohmarkt geben kommt nicht in Frage, sind es doch Erinnerungen an einzelne Personen, die mir dies an Anlässne für Begegnungen, in ihrem Land oder beim Besuch bei uns in Deutschland schenkten.
Lösung: mein interkultureller Schrank. Vor einigen Jahren kauften mein Mann und ich einen Glasschrank, der nun in unserem Schlafzimmer steht. Dort kommen alle die liebgemeinten Schätze rein, die in unserer Wohnung keine Anwendung und keinen ehrenvollen Platz finden.
Hier finden sich neben Stoffpüppchen Porzellantiere, handbemalte Ostereier, kleine gestickte oder bedruckte Bänder, geflochtene Schilfkörbchen, Holzschälchen, Flaschen- und Brieföffner, Minibilderrahmen, .... Es ist wunderbar, wie diese Zeugnisse, meist Billigproduktionen mit für das jeweilige Land symbolträchtigem Charakter, die aus verschiedenen Kulturen, zum Teil sogar aus verschiedenen Jahrhunderten stammen, bunt vereint in meinem Schrank friedlich nebeneinander Platz finden. Wenn ich die Abbildung der „Dea madre“ aus der Nuraghenzeit betrachte, eine Erinnerung an das Partnertreffen in Macomer, Sardinien, die in ihrer schlichten drallen Schönheit in Ton unweit der nicht minder drallen hölzernen Madruschka aus Russland steht, so entdecke ich Gemeinsamkeiten, die irgendwann mal vor Urzeiten in einer Matriarchatskultur liegen mögen. Vergleiche ich die Motive auf den mir geschenkten Bändern, Handtüchern und Deckchen verschiedener Länder, die dort abgebildeten Pfauen und Blumen, kommt mir die Idee, mich, wenn ich spätere einmal Zeit habe, mit der Geschichte der Seidenstraße zu beschäftigen, vielleicht finde ich da den Schlüssel für die ähnlichen Motive.
In einem Holzschächtelchen befinden sich auch Unmengen Pins, meist silbrig, mit dem Emblem der jeweiligen Einrichtung, Andenken an Universitäten des 3. Lebensalters in verschiedensten Orten und Ländern, die ich besucht habe. Alle haben das gleiche Anliegen, älteren Erwachsenen wissenschaftsbasiertes Lernen zu ermöglichen und Lernnetzwerkwerke im Alter zu schaffen, die zugleich auch soziale Netzwerke sind. Ist das nicht eine wunderbare europäische Gemeinsamkeit, die da auf einer Fläche von 5 Quadratzentimeter in meinem Schrank liegt? Die Gegenstände meines privaten „Museums“, so wertlos für andere, sind mir lieb geworden. Sie enthalten viele Erinnerungen und Stoff für Erzählungen, Dokumentationen, etc, die ich einmal schreiben werde, später, wenn ich im dritten Lebensalter bin.
Die Kapazität meines Schrankes sprengen die zahlreichen Konferenztaschen aus Leder, Polyester, Leinen und undefinierbarer anderer Zusammensetzung von zahlreichen internationalen Konferenzen, die sich mittlerweile bei uns zu Hause angesammelt haben. Ein paar Mal machte ich schon Ansätze, sie wegzuschmeißen, aber das ist genau so schwierig, stellt doch jede Tasche mit ihrer Aufschrift eine Erinnerung an ein intellektuell inspirierendes und menschlich höchst angenehmes Zusammensein mit Kolleginnen und Kollegen aus verschiedensten europäischen Ländern dar. Jede dieser Tagungen haben mich „Europa“ in seiner Vielfalt erleben lassen, Unterschiedlichkeit nicht nur in der Physionomie der Menschen, sondern auch in der Kleidung und ihrem Auftreten, in der Art mit dem Begriff „Zeit“ oder „Organisation“ umzugehen, in der Art zu argumentieren und zu diskutieren.
Mein interkultureller Schrank und die Konferenztaschen sind für mich wie Mosaiksteinchen, die langsam, aber beständig das „Haus Europa“ bauen.


Wenn sie mit dem Autor/Autorin des Textes in Kontakt kommen möchten, wenden Sie sich bitte an leserbrief@europa-erleben.net



Carmen Stadelhofer
eingereicht von
Carmen Stadelhofer
Kategorie
Mit interkultureller Brille betrachtet
Datum
18.12.2009


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