Erfahrungsberichte

Internationales Drei-Königs-Essen in Sardinien

Schon die Heiligen Drei Könige waren eine multikulturelle Gemeinschaft, die sich auf die Reise machte, einen "Ausländer" zu suchen. So scheint es doch sehr reizvoll, wenn man in Sardinen zum Festtag der Heiligen Drei Könige zu einem Mittagessen eingeladen wird, bei dem sich die Tischgesellschaft sehr multikulturell zusammensetzt. Der Gastgeber Giovanni: Sarde! Nicht etwa Italiener, obwohl Sardinien schon ca. 150 Jahre zu Italien gehört. Sardinien ist ein Land für sich, die Sarden stolz auf ihre eigene Identität. Aber er ist nicht nur Sarde, er hat 22 Jahre seines Arbeitslebens in Berlin verbracht, ist Zeitzeuge der geteilten Stadt, Pendler zwischen West und Ost (als Inhaber eines italienischen Passes konnte er den Grenzübergang Checkpoint Charlie einfach passieren).

Dazu zwei seiner Weggefährten in dieser Zeit als Arbeitsmigrant Cico: immer ein gewitztes Lächeln parat, kann wahrscheinlich mehr deutsch als er gemeinhin zugibt, und Mario: er hat seine Frau Mira in Berlin kennen gelernt, lebt mit ihr seit ihrer beider Pension in Sardinien, fährt aber nach wie vor seinen Opel mit Berliner Kennzeichen. Mira kam aus Serbien nach Berlin,ursprünglich hatte sie in der Heimat als Zahnarzthelferin gearbeitet, in Berlin schraubte sie dann für Osram Glühbirnen. Ihre Schwester lebt heute noch in Berlin, so ist auch der Kontakt zwischen ihnen und zur Stadt weiterhin lebendig, Charlottenburg lässt beide immer noch nicht los. Des weiteren in der Runde: Ghilaine. Stammt aus Belgien, lebt aber schon 30 Jahre in Sardinien, hatte mit ihrem Mann einen Handel mit Lebensmitteln, den jetzt die Söhne führen, lebt nach dem Tod ihres Mannes nun mit Giovanni, dem Gastgeber. Sie spricht flämisch, französisch, italienisch und mit mir auch ein bisschen deutsch. Auf der anderen Seite des Tisches ein illustres Paar, Mariano: geboren in Oristano, Westsardinien, aufgewachsen in Norditalien, seine Eltern Arbeitsmigranten. Lebte und arbeitete auch in London, wo er immer noch eine Wohnung hat, aber jetzt ist er mit seiner Frau Irina hier in Nordsardinien.

Irina: kommt aus Moskau. Als sie 10 Jahre alt war, übersiedelten ihre Eltern nach Paris. Dort hat sie auch studiert, Theaterwissenschaften, war danach wieder in Moskau und ich glaube, sie haben sich im Internet kennen gelernt. Auf jeden Fall fuhr Mariano nach Moskau, und jetzt leben sie hier. Beide sprechen sie italienisch und englisch, Irina russisch, auch französisch und spanisch, da aber deutsch nicht dabei ist, spreche ich mit ihnen englisch.

Ja, und dann sitzen natürlich noch zwei am Tisch, die auch nicht aus Sardinien sind, Carmen und ich. Bei Carmen: ist die Verständigung nicht so schwer, italienisch, französisch oder englisch, kein Problem! Bei mir ist es schon schwieriger: als grundsätzlich bilingual Aufgewachsener (Muttersprache schwäbisch, 1. Fremdsprache in der Grundschule deutsch) tat ich mich der nächsten Fremdsprache schon schwerer (englisch) und bin heute im Italienischen noch nicht in der flüssigen Konversation angekommen.

Wie gut, dass alle anderen eine Sprache sprechen, die ich auch verstehe! Bevor ich nun zur Speisenfolge komme, nochmals einen kleinen Überblick über die Sprachen, die wir so am Tisch hören und sprechen: italienisch, deutsch, französisch, englisch.

Doch nicht genug: Giovanni, unser Gastgeber, unterhält sich mit seinen zwei Freunden und Weggefährten aus Berliner Zeiten auf – sardisch! Eine eigene Sprache, mit italienisch so viel gemein wie vielleicht deutsch und holländisch.

Auf das Essen will ich hier nicht weiter eingehen, natürlich ist es landestypisch vielgängig, reichhaltig, mediterran, auch ausgefallen (gegrillter Flussaal) oder für unsere Gewohnheiten neu (Salat aus rohen Artischocken). Es nahm den gesamten Nachmittag in Anspruch und war doch nur der Rahmen für vielfältige Gespräche und Erzählungen aus den verschiedenen Lebenserfahrungen der Beteiligten.

Lebensgeschichten aus erster Hand auf dem Hintergrund der großen Zusammenhänge zu hören ist sehr spannend und bietet doch viel intensivere Einblicke in die Geschichte der Menschen.

So höre ich neben mir die Geschichte der jungen Frau, die mit ihren Eltern von Moskau nach Paris umzieht, in Frankreich zur Schule geht, Theaterwissenschaften studiert, um wieder nach Moskau zu gehen, um dort zu leben und zu arbeiten.. Giovanni hat eine Geschichte aus dem geteilten Berlin parat, wie er in Ostberlin Bekanntschaften schließt, dort schließlich eine Frau findet, wie er täglich nach Westberlin "pendelt", um zu arbeiten und nachts in Ostberlin "Familie" lebt. Bis eines Tages etwas schief läuft, er wird für drei Monate in Bautzen inhaftiert, kann nach seiner Freilassung nicht mehr nach Ostberlin, verliert den Kontakt, trifft seine Frau und die Tochter erst zwei Jahrzehnte später wieder, weil er vor dem Fall der Mauer wieder nach Sardinien zurück ging und sich hier eine Existenz als Installateur aufgebaut hat.

Mira erzählt, wie sie aus Serbien nach Berlin gekommen ist, wie die Tito-Regierung sie und ihre Landsleute nur gehen ließ unter der Voraussetzung, dass sie einen Großteil ihres Einkommens an den Jugoslawischen Staat abführten. Und trotzdem war es für sie besser, in Berlin in der Produktion zu arbeiten als zu Hause in ihrem Beruf als Zahnarzthelferin. Sie erzählt, wie sie als junge Frau mit ihrer Tochter bei der sardischen Schwiegermutter in Sardinien wohnte und sich anfänglich mit niemand in der Familie ihres Mannes verständigen konnte Ich erkläre meinen neuen Bekannten, wie man in der Altstadt von Ulm denkmalgeschützte Häuser saniert, wie wir nach Sardinen gekommen sind und was wir hier vielleicht noch so vor haben. Viele Geschichten füllen einen solchen Nachmittag, natürlich auch weniger tiefgreifende, die sardischen Männer spielen auch mal schnell eine Runde Karten, was durchaus auch zur Unterhaltung aller beiträgt. Wie einfach ist es doch, persönliches voneinander zu erfahren, wenn man die Bereitschaft hat, sich an einen „multikulturellen“ Tisch zu setzen, Sprachhemmungen zu überwinden, einander zu fragen und vor allen: zuzuhören.


Wenn sie mit dem Autor/Autorin des Textes in Kontakt kommen möchten, wenden Sie sich bitte an leserbrief@europa-erleben.net



eingereicht von
Bertram Wegemer
Kategorie
Begegnungen helfen verstehen
Datum
17.01.2010


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