Erfahrungsberichte

Tod der drei Birken

Bezug: Weiße Birken als Sinnbild für Heimat(en)

Drei weiße Birken in meiner Heimat stehn.
Drei weiße Birken, die möcht´ ich wieder sehn.
Denn doch so weit von hier,
auf der grünen, grünen Heide,
da war ich glücklich mit dir,
und das vergesse ich nie…


Dieses Lied von den drei weißen Birken begleitet mich seit meiner Kindheit. Ich habe das Wort Birke immer mit dem Begriff Heimat verbunden, obwohl ich noch nicht so richtig etwas mit dem Begriff „Heimat“ anfangen konnte. Und in meiner „ersten“ Heimat, wo ich geboren wurde, war eigentlich die Kastanie der Baum aller Bäume, über den man Lieder sang, wie etwa: „Es blühen wieder die Kastanien, man hört das plätschern des Dnepr. Unsere Heimat ist die Zeit des Glücks….“


Ja, das war meine Heimat, wo ich die ersten Jahre meiner Kindheit verbracht hatte. Eine Heimat mit einem unendlichen Meer weiß blühender Kirschbäume im Frühling und goldenen Ährenfeldern im Herbst, die im Wind wogten.


Dann begann eine „Reise“, die ins Unendliche ging, In einem Flüchtlingstreck durch ganz Europa – mit dem Wagen, mit dem Zug, manchmal auch zu Fuß. Und überall begleiteten uns Bäume. Die Bäume, die am Rande des langen Weges standen, über den unser Treck in Richtung Westen zog, die Bäume, die wir durch die Fenster oder Türen des Waggons sahen, als wir mit dem Zug weiterfuhren.


Endlich waren unsere Reisestrapazen zu Ende, und wir waren in einer „neuen“ Heimat angekommen, in der uns alles anders, alles fremd vorkam. Aber es gab auch alte vertraute „Dinge“, die uns überall begleiteten – dieselben Bäume, die Birken, die Kastanien.


Als dann Schießerei und Bombardierung vorbei waren, wurde es unheimlich still. Aber in dieser Stille brodelte es dumpf. Es lag eine große Bedrohung in der Luft. Wir mussten uns wieder auf den Weg machen. Es hieß, wir fahren zurück „in die Heimat“, was dieses Wort auch immer für jeden von uns bedeuten mochte. Diese Reise war wieder, wie so oft, unfreiwillig.


Wir fuhren beinahe denselben Weg zurück in die „Heimat“. Nur hielt der Zug in der „Heimat“ nicht an, er fuhr immer weiter nach Osten bis hinter den Ural. Wir landeten in Asien in den Weiten der Taiga. Diese Gegend sollte für lange Zeit für uns die „dritte“ Heimat werden. Auch hier waren wir wieder von Bäumen umgeben: Tannen, Fichten, Kiefern in der unendlichen Taiga. Aber auch Birken in der Waldsteppe… Manchmal war es eine einsame Birke mitten auf dem Feld und manchmal auch ein kleiner Birkenhain, der dem müden Wanderer Schatten und Ruhe spendete. Oder eine Birke, die vor dem Fenster stand. Die Vögel in ihren Ästen begrüßten dich jeden Morgen mit ihrem Gesang, und durch die Zweige schien der erste Sonnenstrahl. Ja, die Birke war der Baum meiner „dritten“ Heimat. Ich wusste genau, dass die Taiga nicht meine Heimat war und auch nicht sein konnte. Wir hofften immer auf eine Rückkehr in „unsere“ Heimat, obwohl es nicht ganz klar war, wo sie jetzt sein sollte.


Endlich kam die große Reise – wieder zurück in den Westen. Wir haben lange darauf gewartet, wir haben dafür gekämpft und Vieles in Kauf genommen.


Aber jetzt sind wir da, wir sind am Ziel! Wir sind in unsere historische Heimat zurückgekommen!
In unsere Heimat!


Ist dem wirklich so? Für die meisten – ja, aber nicht für alle. Es hat für uns allzu viele „Heimaten“ gegeben, und in jeder von ihnen haben wir ein Stückchen von unserem Herzen zurückgelassen. Wir haben überall Spuren hinterlassen. Wir haben aber auch aus jeder unserer Heimat das Beste mitgenommen.

Deutschland ist meine „vierte“ Heimat, in der ich schon das zweite Mal in meinem Leben zu Hause bin. In meiner neuen Heimat sich wohl zu fühlen, halfen mir die drei weißen Birken vor meinem Fenster und die zwei hohen Kastanien.


Als vor zwei Jahren eine der Kastanien gefällt wurde, habe ich geweint. Ich habe es einfach nicht verstanden, warum dieser Baum sterben musste. Die Erklärung, dass der Baum zu nahe am Haus stand und die Wurzeln sich ins Fundament eingefressen hatten, beruhigte mich ein wenig. Aber ich war sehr lange traurig, als ich mir morgens anstatt der grünen Blätter und der weißen Kerzen der blühenden Kastanie die graue Wand des hohen Nachbarhauses ansehen musste.


Aber mir blieb noch immer die große Freude an meinen drei weißen Birken, die vor meinem Fenster standen. Die waren mein Birkenhain. Ich hatte immer das Gefühl, ein Stückchen aus meinen „alten“ Heimaten in meine jetzige Heimat mitgebracht zu haben.


Wie groß aber waren mein Schreck und mein Entsetzen, als ich vor einigen Tagen nach Hause kam, und vor unserem Haus wieder Gartenarbeiter auf einer hohen Drehleiter standen. Ich habe nicht gleich verstanden, was da passiert war, die Äste der Birke lagen schon alle auf dem Boden, es standen nur noch drei niedrige Birkenstämme, und rundherum lagen Späne. Ich blieb wie versteinert stehen. Aber was konnte ich tun? Die drei Birken waren tot!
Mir fiel das berühmte Leid von Alexandra ein: „Mein Freund der Baum ist to. Er starb an einen frühem Morgenrot“. Warum? Wer hat das beschlossen? Die Wurzeln dieser Birken haben doch keine Häuser bedroht, sie standen viel zu weit von ihnen entfernt. Ich stellte mir die Frage: Wir kümmern uns um alles in der Welt, wir versuchen die Gletscher zu retten. Uns tut jeder gefällt Baum im Regenwald leid. Vor unserem Fenster aber lassen wir unsere Lieblingsbäume fällen – welche Ordnung verlangt so was? Das ist doch unmenschlich.


Ich habe wieder mal ein Stückchen meiner „neuen“ Heimat verloren, auch ein Stückchen von meinem Herzen. Es tut sehr weh, und nicht nur mit allein.


Ich habe die Birken zu jeder Jahreszeit fotografiert. Das letzte Foto waren die drei kahlen Stämme der Birken und am nächsten Tag war nichts mehr zu sehen, die weißen Stämme waren auch schon weg. Alles war sauber aufgeräumt. Nichts mehr erinnerte an die drei weiße Birken, die ein Stück meiner Heimat waren.


Wenn sie mit dem Autor/Autorin des Textes in Kontakt kommen möchten, wenden Sie sich bitte an leserbrief@europa-erleben.net



Irene Mohr
eingereicht von
Irene Mohr
Kategorie
Meine Heimat(en)
Datum
06.07.2009


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