Prof. Dr. Christel Köhle-Hezinger

Europa - eine Chance für ein neues Verständnis von Heimat


Vor einiger Zeit war im Fernsehen, in Alfred Bioleks Talkshow, Lech Walesa zu Gast. Der polnische Staatspräsident plauderte locker über Europa   ganz selbstverständlich und zugleich engagiert. Am Ende überraschte Alfred Biolek seinen Gast mit einer Frage: Was ihm zu dem Satz einfalle ‘Denk ich an Deutschland...'? Lech Walesa dürfte das deutsche Fernsehpublikum mit seiner Antwort mindestens ebenso überrascht haben wie der Frager ihn: 'Denk' ich an Deutschland'   dazu falle ihm ein, „daß wir verurteilt sind, miteinander zu leben."1 Europa Fans mag dieser Satz enttäuscht, ja schockiert   Skeptiker hingegen bestätigt haben. Da sprach einer das aus (   ein Staatsmann in höchster Position zudem   ), was andere denken oder wovon sie im Grunde ihres Herzens überzeugt sind   so wie das kleine Volk der Norweger oder das der Dänen, das bei seiner Volksabstimmung mutig nein sagte zu Europa... Aus solcher Sicht wäre unser Thema mit einem Fragezeichen zu versehen, als offene Frage wenigstens zu formulieren. Täuscht der Eindruck in der Gegenwart, daß allenthalben eine Rückkehr zu „Small is beautiful" stattfindet   als Erbauung an der eigenen, kleinen Geschichte, nach dem Motto „Heimat ist unser", und zwar „unser ganz allein"? und daß zugleich eine Ermattung zu beobachten ist in den Aktivitäten, die über den engen Eigenbereich hinausgreifen (   die freilich auch, so könnte man zu Recht einwenden, verordnet waren), etwa der „Tag des ausländischen Mitbürgers“ oder die mittlerweile meist fast überall fest bürokratisch eingefahrenen europäischen Städtepartnerschaften? Bei einer Europatagung unseres Faches 1993 in Südfrankreich sagte ein Kollege aus der französischen Schweiz, es mache ihm Angst, die Mächtigkeit der Sprachgrenzen als Mentalitäts  und Kulturgrenzen heute zu beobachten. Seit einiger Zeit werde der „Gegensatz zwischen der französischen und deutschen Schweiz immer größer, abzulesen an der Arbeitslosigkeit, am Wahlverhalten etc.. Konfessionelle Barrieren wirkten hier ebenso wie das Stadt Land Gefälle.“2

Europa heute: Ist das nicht eine Negativbilanz der Hoffnung? Sind nicht Brüssel oder Maastricht geradezu Negativ Reizworte? Sind wir nicht bereits dahin gelangt, daß Europa nicht einmal mehr den berühmten 'Hund hinterm Ofen' hervorlockt   außer eben jenen, die laut 'bellen' gegen Europa, wenn ihnen eine Volksabstimmung die Möglichkeit dazu gibt? Aber ansonsten doch überall Friedhofsstille, bestenfalls Verdruß, Abstumpfung? Es mag in der Tat so scheinen, als ob der 'alte Schwung dahin' sei, als ob die Bürokraten allein das Sagen hätten, zum Sachwalter der einstigen Euphorie geworden seien. Mich hat, ich gestehe es, der Satz von Lech Walesa beeindruckt. Er hat mich   als Volkskundlerin und Historikerin   sofort zu einem Vergleich angeregt. Sein Satz, „daß wir dazu verurteilt sind, miteinander zu leben", rief in mir das Bild von der Vernunftehe wach. Es erinnerte mich an die nach Vorträgen und in Seminaren so oft und leidenschaftlich vom Publikum diskutierte Frage, wie es denn in früherer Zeit in Partnerschaft und Ehe ausgesehen hätte   im Vergleich zu heute. Wenn es so war, so wird argumentiert, daß früher eine Ehe in der Regel eine „gestiftete", das heißt eine verkuppelte oder versprochene war   also keine "Liebesheirat" im heutigen Sinne -„war das dann nicht schrecklich?" Man weiß dann meist zwar von den „vielen Kindern", aber auch von der vergleichsweise kurzen Lebensdauer der Menschen und ihrer Ehen; aber dennoch ... ?

Solche Fragen und Zweifel sind fraglos bestimmt von unseren heutigen Bildern vom Zusammenleben, von "Glück, Liebe, Erfüllung". Ich versuche in solchen Diskussionen dann gerne behutsam, die Medaille zu wenden: War die Vernunftkuppelei notwendig eine schlechte   angesichts der Tatsache, daß heute jede dritte Ehe auseinandergeht? War nicht das „Lebenslänglich" Versprechen auch ein Gehäuse, vielleicht sogar eine Chance für das Sich Achten und Mögen, das sich möglicherweise im Laufe der Zeit, der Ehe einstellte, das sich   im Ausblick auf das Lebenslänglich   lernen ließ, lernen lassen mußte? Aus meiner Kenntnis der Geschichtsquellen tendiere ich zur Bejahung dieser Frage  zwar nicht ausschließlich, aber doch 'in der Regel'. Und ich tendiere ferner als Historikerin zu Bildern aus der Geschichte: aus der Alltags  und Lebenswelt unserer Kultur, unserer Vorfahren; auch als Metapher, als Vergleich auch für Europa.

Hans Maier schrieb vor einigen Jahren in der FAZ im Blick auf Frankreich und seine Regionen, der Blick in die Geschichte zeige, „daß oft die Inhalte nachkommen, wenn die Gehäuse vorhanden sind." Hermann Bausinger zitierte diesen Satz in seinem Aufsatz mit dem passenden Titel „Region   Kultur   EG" mit dem Hinweis, die Bildung der modernen Nationalstaaten in Europa belege diese These. Und er fügte ein Politikerwort an, das die Einigung Italiens folgendermaßen kommentierte (sprachlich nicht sehr schön, aber doch treffend): "Wir haben Italien gemacht   nun müssen wir Italiener machen."3 Aber   so mögen Sie fragen   hat nicht die Hochkonjunktur des Regionalismus in den siebziger Jahren, die heiße Phase des separatistischen Regionalismus eben diese These Lügen gestraft? Haben nicht Basken und Schotten, Jurassier und Lappen, Elsässer und Katalanen gezeigt, daß diese Meinung ins 19. Jahrhundert gehört?

Hermann Bausinger zitierte im Blick auf diese Frage weiter eine tiefsinnige Zeitungsmeldung. Im Zeitungsbericht über die Europa Rede eines Politikers sei davon die Rede gewesen, daß jener am Schluß resigniert gesprochen habe über die „Europamüden". Einer späteren Berichtigung zufolge hatte der Politiker jedoch gesprochen über „Europamythen" ... Wovon also reden wir heute: von den Mythen oder von den Müden? Von den "Europamythen" reden bereits allzuviele Europa-Mythologen. Ich gehöre nicht zu dieser Zunft. Als Volkskundlerin weiß ich von der Gefahr der Mythisierung. Wenn, so bemerkt Bausinger zu recht, wir „an die Karriere von Begriffen wie Deutschtum oder Deutschheit denken" dann müsse man „froh sein, daß von 'Europäertum' heute nicht soviel die Rede" sei4.

Mein Thema verweist auch   historisch   auf den Kontext Heimat, indem es fragt: Kann Europa Heimat sein oder werden? Kann aus dem "Verurteiltsein", von dem Lech Walesa sprach, kann aus der 'Vernunftehe' Liebe werden? Kann daraus, mehr noch, eine Familie werden   nicht nur aus Ossis und Wessis, sondern auch aus „Sauschwobe, Schwyzerlöli und Waggis" (so ein Titel aus einem Band der Zeitschrift Almende des Jahres 19925)? Aus „Käsköpfen", „Spaghettis", „Polachen"   eine Familie?

Wir zögern mit einer schnellen Antwort. Nun   wenn wir an unsere eigenen Alltagserfahrungen mit Fremden, an unsere liebgewonnen und zählebigen Vorurteile denken - an die gelebten alltäglichen Erfahrungen, oder ich an meine gelesenen und erforschten 'Erfahrungen' aus der Geschichte   dann, so glaube ich, müßten wir doch sagen: „Es könnte sein, und eigentlich müßte es sein ... daß aus der Vernunftehe mehr wird." Der Elsässer André Weckmann schlug dafür den Begriff der „Konvivialität"6 vor. In diesem Wort ist das Zusammenwachsen zwar noch nicht erkennbar, aber immerhin   es ist angelegt. Mehr und wichtiger noch: es ist als Aufgabe, als Programm formuliert. Liebe, so sagte es der Philosoph Theodor Adorno, sei die Fähigkeit, Ähnliches an Unähnlichem wahrzunehmen.

Ich versuche im folgenden, das 'Ähnliche' zu beschreiben: unsere kollektiven Erfahrungen, die es uns so schwer machen, unsere Vorurteile und Stereotypen aufzugeben. Unsere Vorurteile, so sagt Adorno an anderer Stelle, sind „beides, Werkzeuge und Narben"7. Der Fremdenhaß in unserer Zeit hat daraus tödlich scharfe Werkzeuge gemacht. Er 'braucht' gleichsam das Unbekannte, muß es unbekannt lassen, denn: „Damit man das Unbekannte hassen kann, muß es unbekannt bleiben."8

In dieser fatalen, tragischen Dialektik steckt freilich eine tiefgründige Ironie. Gesehen und feinsinnig formuliert hat sie   auf die ihm eigene, hintergründige Weise   Karl Valentin. Er beschreibt die Unmöglichkeit des Bemühens, daß auch die fremdesten Fremden uns nicht fremd seien, in einer eindrücklichen Sentenz: "Der Einheimische kennt zwar den Fremden nicht, erkennt aber auf den ersten Blick, daß es sich um einen Fremden handelt."9

Fremde und Einheimische: Wie funktionierte das, historisch? Wir sind beim notwendigen Blick in die Geschichte. Zunächst der 'Normalfall', die „Heimat", Haus und Hof, das heißt die angestammte und vererbte Heimat. In der alten, bäuerlich traditionalen Welt war alles Neue zunächst stets das Fremde, Bedrohliche. Mochten auch gelegentlich einzelne Züge des Fremden Neugier und Lust wecken und vielleicht profitabel erscheinen   stets jedoch war für die Begegnung der Menschen mit dem Neuen, für ihr Verhalten den Fremden gegenüber Zurückhaltung, Angst oder zumindest Vorbehalt das entscheidende Regulativ. Das gilt für alle Neuerungen und für die Umwälzungen, die seit dem 18. Jahrhundert für die Menschen das Ende der alten, traditionalen Welt anzeigten und für sie spürbar werden ließen. Denken wir an Entwicklungen wie   Stichworte müssen hier genügen   die Aufklärung, die Entstehung des Bürgertums, die Entdeckung des Individuums; hier begannen die Menschen sich zu lösen aus den alten, kollektiven Ordnungen, aus den seit dem Mittelalter im wesentlichen unverändert bestehenden traditionalen Gemeinschaften und Gefügen. (Ob dieses Herauslösen für die Menschen auch eine 'Erlösung' bedeutete, wäre eine ganz andere Frage.) Insgesamt waren dies Entwicklungen, weiche die Menschen formten und vorbereiteten auf die Moderne: auf die Rhythmen und Tempi des Industriezeitalters als einer maschinisierten, beschleunigten Lebenswelt.

Im deutschen Südwesten etwa waren diese Erfahrungen und Neuerungen für die Menschen diesseits und jenseits der Grenzen strukturell kaum verschieden   auch wenn es in den Folgewirkungen manchmal darauf ankam, auf welcher Seite des Rheins man lebte. Die Erfahrungen waren ähnlich, ja gelegentlich oft die gleichen, denken wir etwa an die Einführung der Fabriken mit Schweizer Kapital seit dem 18. Jahrhundert; oder an die Heimarbeit, die mit der knappen Landwirtschaft das Überleben sicherte   sei es durch Holz oder Textilien , an die Verschärfung dieser Hausindustrie durch das sogenannte Verlagswesen, eine Art früh- und kleinkapitalistisches Subuntemehmertum, das noch das hinterste Dorf verband mit der Stadt, dem Zentrum von Geld und Dienstleistungen10; oder an die Anziehungskraft einer Metropole wie Basel: hier konnte man 'dienen' und 'lernen', hier lernte man auch die neumodische, städtische Lebensart.11 Oder denken wir an die Eisenbahn, die den Verkehr von Menschen und Gütern erst massenhaft ermöglichte, oder den Bau der Straßen. Die Fabriken beschleunigten was mit dem Bau der Eisenbahnen begonnen hatte. Sie brachten erstmals Scharen von fremden Menschen, von 'Ausländern' in die ländlichen Räume. Eine der Folgen dieser Erschließungen war der Tourismus: er brachte eine Neuorientierung des Denkens, neue Strukturen der Gewerbeorientierung   und fremde Menschen12. All dies Neue, Fremde wurde registriert, es wurde (in doppeltem Sinne) taxiert und der bisherigen Welt integriert in einem äußerlichen, funktionalen Sinne. Ob es auch ästimiert wurde, ob Aneignung und Identifikation damit stattfand   das ist eine ganz andere Frage: ob und wie es Teil der eigenen Kultur wurde.

Das Neue, Fremde, das Angst weckt, ist uns allen auch aus unserer Kultur, aus unserer Gegenwart vertraut. Geläufig ist es uns, als die Decouvrierung massiver Ängste, aus den Debatten zur sogenannten 'Überfremdung' und zur Multikultur Frage. Das erinnert   Generationen zuvor   an Zeiten ähnlicher Ängste und Unsicherheiten. Im Jahre 1908 erschien ein „Exkurs über den Fremden". Autor war der Soziologe Georg Simmel, der jüdischer Abstammung   und damit selbst ein 'Fremder` in seiner Kultur war und erst im Alter von 56 Jahren in Straßburg eine Professur erhalten hatte. „Der Fremde", so schreibt Simmel, ist nicht „der Wandernde, der heute kommt und morgen geht, sondern der, der heute kommt und morgen bleibt."13 In der Geschichte hatte es solche, die kamen und gingen (Händler, Reisende, Hausierer, Vaganten) ebenso gegeben wie solche, die blieben. Wanderungsbewegungen durch Kriege   etwa der Dreißigjährige Krieg, Krisen, Notzeiten   hatten für weite Landstriche eine Entvölkerung bedeutet. Fremde kamen, siedelten, blieben. So entstand aus einem oft bunten 'Völkergemisch'   Tiroler, Schweizer, Italiener, Hessen, Bayern   eine neue Kultur. Mischkulturen waren das Produkt von oft jahrhundertelangen Migrationen. Das Land, die dörfliche Kultur war nirgends und zu keiner Zeit ein homogener, geschlossener Horizont.14

Äußere und innere Ordnungen bestimmten diesen engen Raum in einem heute kaum mehr vorstellbaren Sinne. Dorfordnungen regelten jede Einzelheit des Zusammenlebens bis in private, intimste Bereiche hinein. Sie bestimmten über Flur  und Feldschutz, über das Hochzeitsalter und den  Ablauf, über Notfälle und Vererbung, Schule und Kirche ebenso wie über die Zahl der Knöpfe am männlich bäuerlichen Wams, oder über die der Falten am weiblichen Rock.

Solche Ordnungen, seit Jahrhunderten gültig, immer wieder erneuert, verändert oder bekräftigt (was oft als Zeichen ihrer relativen Wirkungslosigkeit gedeutet werden muß) bedeuteten Verortung der Menschen im sozialen und kulturellen Sinne. Die dörfliche 'Sitte' dessen, was 'man tat' (und noch mehr dessen, was man nicht tat) war der Kodex, der das Dorf zusammenhielt nach innen und nach außen. Er war verbindlich und prägend für die Einzelnen wie für das Kollektiv   sollte es funktionieren, wollte es überleben. Die Ordnung war 'in allen Dingen'.15 War man nach innen auch zerstritten, so war man nach außen (gegen Fremde, bei Bedrohung) doch einig 'wie ein Mann'. Dies galt bis hinein in ganz banale, selbstverständliche, heute fast vergessene Bereiche wie etwa die Alltagssprache. Fremde wurden bezeichnet und verortet nach einem verbindlichen und allen Dorfbewohnern geläufigen System. So etwa im Bereich der Namen, der Übernamen und der Ortsnecknamen. Wurde man von den anderen als „Hammel" oder „Hummel" bezeichnet, so hieß man die Nachbarn die „Schnecken"; man zahlte also mit gleicher Münze zurück oder suchte sich zu rächen. Die Steigerung des Neckens oder Spottens war das Schlagen, die Schlägereien und „Raufhändel". Schlagen indiziert Stärke, Abwehr gegenüber den jungen Männern aus Nachbarorten, wollte ein Freier des anderen Ortes ein Mädchen aus den eigenen Reihen heiraten. Solche Ordnung des Raumes gab es auf vielfältige Art, bis hinein in kleinste und heute meist vergessene Bereiche kultureller Selbstverständlichkeiten. Um am Beispiel der Sprache zu bleiben: Jeder Einheimische kannte das „Richtnetz" der Landkarte, die man im Kopf hatte   in welchen Flecken, in welche Stadt man „hinein", „hinauf', „hinunter", „hinüber" ging. Das war eindeutig, klar und für alle verbindlich. Die Wissenschaft hat dies untersucht unter dem Begriff der „Richtungsadverbien", die heute mit zunehmender Mobilität, durch Gebrauch von Auto und Landkarten   im Verschwinden begriffen sind. Ende der sechziger Jahre ergaben Stichproben bei Befragungen (in 30 Dörfern jeweils 30 Leute), daß dieses Set der Orientierung in den Köpfen durchaus noch vorhanden war.16

Hier sind, am gewissermaßen unscheinbarsten Beispiel illustriert, die alten Ordnungen und Entwicklungen dörflichen Wandels an ihr Ende gekommen, die im 18. Jahrhundert begonnen und im vorigen   meist durch den Eisenbahnbau   ihren entscheidenden Schub und ihre Richtung bekommen haben: in Richtung der Auflösung alter, starrer Ordnungen in räumlichem, ökonomischem, sozialem und kulturellem Sinne. Das alte "Heimatrecht", das jahrhundertelang Grundlage dörflich genossenschaftlichen Zusammenlebens gewesen war, verlor mit der Gründung des Deutschen Reiches im Jahre 1871 seine Gültigkeit. Dieses Bürgerrecht hatte die dörfliche Gesellschaft in drei soziale Gruppen eingeteilt: in die der Vollbürger als Bürger erster Klasse, die der Beisitzer als der zweiten Klasse und in die der „Heimatlosen", jene im wahrsten Sinne drittklassigen dörflichen Unterschicht. Ihr Aufstieg in die zweite oder erste Klasse war theoretisch   durch Geld oder durch Einkaufen   zwar möglich, fand praktisch jedoch kaum statt. Neue Bürger wurden im Grunde nur dann akzeptiert, wenn sie für Rechte, die ihnen die Aufnahmegemeinde im Heimatrecht bot, Vermögen beisteuern konnten oder irgendeine Qualifikation, die dem Orte gerade nützte   etwa im Falle eines Schmieds, wenn der alte Dorfschmied gerade gestorben war. Meist aber versuchte die Dorfgemeinschaft, sich jeden Neubürger vom Leibe zu halten.

Diese Haltung dürfen wir nicht vorschnell als brutalen Fremdenhaß unserer Vorfahren einstufen. Es war vielmehr das ganz materielle Interesse, das in Zeiten knapper Daseinsvorsorge bitter nötig war zum Überleben. Jeder Neue bedeutete eine Minderung der angestammten Bürgerrechte und Bürgernutzungen. Der 'Kuchen' war ja schon verteilt, so konnten nur noch die Stücke kleiner werden. Jeder Bürger wurde potentiell als eine Last gesehen: als eine mögliche Armenlast, die   so verlangte es das Gesetz   allein Sache der Gemeinde war. Deshalb weigerte man sich, Neubürger aufzunehmen, wann immer es ging, auch unter fadenscheinigsten Vorwänden   einmal ganz gut verbrämt, ein andermal recht schlecht erfunden.

Aus diesem Grunde war man auch froh, wenn einer die Heimatgemeinde verließ und sein Bürgerrecht zurückgab. Das dafür notwendige sogenannte Leumundszeugnis gab man den Scheidenden gerne, ob sie nun nach Rußland oder nach Amerika oder in fremde Kriegsdienste zogen. Die Gemeinde zahlte in den großen Auswanderungswellen des 19. Jahrhunderts, angesichts des enormen Bevölkerungsdrucks, gerne sogar noch Prämien, also direkte Zuschüsse. Diese hohen Unkosten, so hoffte man, waren wenigstens einmalig. Sie konnten, so kalkulierte man, weit höhere Kosten für die Unterstützung Untätiger, armer Kranker oder Alter 'einsparen'.

Diese abwehrende Vorsicht läßt stets das gleiche Prinzip erkennen: vorzubeugen, um Schlimmeres zu verhüten, um Folgelasten und Folgekosten so weit als möglich auszuschalten. Im 18., zunehmend im 19. Jahrhundert konnte der dörfliche Armenkasten der Scharen von Vaganten nicht mehr Herr werden, die umherzogen. Er mußte aber laut Gesetz für Fremde, Dürftige und für die sogenannten Ortsarmen Unterhalt und Unterkunft gewähren. Württemberg änderte 1807 das Gesetz. Nun waren für Vaganten und Bettler nicht mehr die Wohngemeinde, sondern die Heimatgemeinden zuständig, in der man sein Heimatrecht besaß. Hier schließt sich der Kreis: sofern man es besaß... Ortsfremde Bettler konnten nun verjagt werden nach dem St. Floriansprinzip, wie es eine Polizeiordnung aus dem Jahre 1814 beschreibt: „Fremde Kranke, Arme sind in der Fron von Ort zu Ort weiterzuführen, wenn es ihr körperlicher Zustand erlaubt". Angesprochen ist die sogenannte Bettelfuhr, die nicht nur „Spitzbuben", sondern auch Verarmte und Unversorgte wie Witwen und Kranke traf. Sie wurden, hatte man sie auf der Markung aufgefunden, höchstens eine Nacht behalten, wie es das Gesetz verlangte, danach durften sie auf einem Schubkarren geladen und vor dem Nachbarort abgeladen werden   im wörtlichen Sinne eine 'Armenlast', die irgendwann während dieser Prozedur, die beliebig wiederholbar war, ihren Geist aufgab ... Erst 1841 hat man diese seit dem 16. Jahrhundert übliche Art der 'Krankenversorgung per Gesetz' ebenso abgeschafft wie eine andere Sitte; Sitte und Brauch waren also nicht immer nur schön oder gar gemütlich. Ein anderes Beispiel wäre das „Heiligenblech". Es meint die Art der Brandmarkung für die sogenannten würdigen Armen, die Unterstützungsanspruch auf Geld oder Naturalien hatten. Weil dies früher Sache der örtlichen Heiligenpflege war, hat sich der Name Heiligenblech eingebürgert. Es war Vorschrift, dieses Abzeichen sichtbar an der Kleidung anzubringen; meist trug man es am Ärmel.17 Wenn uns heute dazu als Vergleich der Judenstern einfällt, so ist es richtig, was die Sache, nicht aber, was die Beweggründe solcher Handhabungen betrifft. Was oben gesagt wurde, gilt auch hier: ein möglichst frühes Vorsorgen, Abwehren und Abwägen waren das Lebensprinzip des Dorfes vor der Industrialisierung. Das mag pathetisch klingen, aber es entspricht der historischen Realität. Ein Akteneintrag aus dem Jahre 1830 charakterisiert dieses Lebensprinzip als eine sehr nüchterne Sicht der Dinge, alltäglich und überall. Dort heißt es von einem Vaganten: „Er hat von Vermögen nichts und auch für die Zukunft wenig zu hoffen."18 Das war in früherer Zeit eine logische, stets aufs Neue bewiesene Gleichsetzung. Der Stand, in dem man geboren wurde, bestimmte die Aussichten, die Hoffnungen. Das Leben der Einzelnen, ihr individuelles Schicksal war so eingebettet und eingebunden in die 'Herkunft Heimat' im klassisch definierten Sinne, im Sinne von Haus und Hof, von Stand und Herkunftsort. Die Öffnung dieser geschlossenen Weit begann vor mehr als einhundert Jahren, und sie begann langsam. Was im städtischen Raum schon zwischen den beiden Weltkriegen Realität war, begann schließlich nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer gesamtgesellschaftlichen Wirklichkeit sich zu weiten. Die „Auflösung der Horizonte“19 ist also   gemessen an der langen Dauer historischer Zeiträume   eine rasante und rezente und damit für viele eine beängstigende Entwicklung.

Ist Europa, so fragen wir zum Schluß, auf dem Wege zur „Heimat", heute und auch in der Zukunft? Europa, so Hermann Bausingers Fazit, „kann nur von unten her entstehen, durch eine Verdichtung der Kommunikation, durch ein Geflecht von Verbindungen“.20 Gemeint sind Verbindungen von Menschen, ein Geflecht des Dialogs, des menschlichen Austauschs   nicht aber dessen von Institutionen oder Sachen allein und vorrangig. Schüler, die über Grenzen hinweg lernen und arbeiten, „sich austauschen", sind zum Beispiel solche Verbindungen. Menschen in Grenzregionen etwa, in Betrieben und Fabriken, die in ihrem Alltag praktisch längst Multikultur leben, könnten verwirklichen, was mir während einer „Heimatkundlichen Wanderwoche "21 ein pensionierter Lehrer aus dem Schweizer Emmental, Jahrgang 1908, bei einer abendlichen Heimatdiskussion auf einen Zettel geschrieben hatte: „Heimat ist da, wo ich keine Angst habe."


Festvortrag anläßlich der Auftaktveranstaltung zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zwischen dem Oberschulamt Freiburg und dem Erziehungsdepartement Aargau "Grenzen überwinden, Menschen verbinden" am Freitag, dem 2. Dezember 1994 in Waldshut unverändertes, nur mit Anm. versehenes Vortragsmanuskript).

1 Sendung am 24.11.1994 (ARD).
2 So Pierre Centlivres vom Institut für Ethnologie In Neuchâtel (zit. n. Bayer. Blätter für Volkskunde 4/93, S. 241).
3 Hermann Bausinger, Region   Kultur   EG. In: Osterr. Zeitschrift für Volkskunde, Bd. XLVIII/97, Wien 1994, S. 113 140; 119f.
4 Ebd., S. 139.
5 Hilde Ziegler, Dääne, dinne, dusse. Geschichten aus dem Dreyeckland. In: Allmende 34/35, 1982, S. 14 18; 15.
6 André Weckmann, Bilingua Zone oder: Die Kultur des Zusammenlebens. In: Allmende 34135, 1982, S. 86 94.
7 Theodor W. Adorno, Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt 1973, S. 189.
8 Ebd., S. 188.
9 Zit. n. Claus Dieter Rath, Begehrte Fremde. Für Fremde Kein Zutritt. In: Marie Lorbeer, Beate Wild (Hg.), Menschenfresser   Negerküsse. Das Bild vom Fremden im deutschen Alltag. Berlin 1993, S. 12 19; 12.
10 Für das Zürcher Oberland etwa liegen beispielhafte neuere Studien vor: Jürg Hauser (Hg.), Die Industrielle Revolution im Zürcher Oberland. Wetzikon 1985; und Reto Jäger et al., Baumwollgam als Schicksalsfaden. Wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen in einem ländlichen Industriegebiet (Zürcher Oberland) 1750 1920.
11 Vgl. Hans Thoma, Im Winter des Lebens. Aus acht Jahrzehnten gesammelte Erinnerungen. Waldshut/Bemau (1989), etwa S. 31.
12 S. dazu etwa Bernhard Oeschger/Edmund Weeger, Schwarzwaldleben anno dazumal. Ein historischer Bilderbogen aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert, Stuttgart 1989; und: Klaus Hoggenmüller/Wolfgang Hug, Die Leute aus dem Wald. Alltagsgeschichte des Schwarzwalds zwischen bäuerlicher Tradition und industrieller Entwicklung, Stuttgart 1987.
13 S. dazu Almut Leycke (Hg.), Der Gast, der bleibt. Dimensionen von Georg Simmels Analyse des Fremdseins. Frankfurt/New York 1992.
14 Vgl. dazu (und zum folgenden) Christel Köhle Hezinger (et al.), Kultur im ländlichen Raum. Tübingen 1989, bes. S. 19 30.
15 S. dazu Christel Köhle Hezinger, Die Ordnung der Dinge und des Lebens. Anmerkungen zu Dorfalltag und Dorfordnung. In: Ch. Ganzert (Hg.), Lebensräume (Tagung in der Ev. Akademie Bad Boll 1991). Komwestheim 1992, S. 19 28.
16 S. dazu Amo Ruoff, Mundarten in Baden Württemberg. Beiheft zur Tonkassette mit Transkriptionen, Kommentaren und einer Sprachkarte. Landesbildstelle Stuttgart 1983.
17 S. dazu Angelika Bischoff Luithlen (Bearb. Chr. Köhle Hezinger), Von Amtsstuben, Backhäusern und Jahrmärkten. Ein Lese  und Nachschlagebuch zum Dorfalltag im alten Württemberg und Baden. Stuttgart 1979 (S. 40ff. und 46).
18 Zit. n. Angelika Bischoff Luithlen, Der Schwabe und die Obrigkeit. Stuttgart 1978, S. 166.
19 Hermann Bausinger hat diesen Begriff geprägt für die Modemisierung im 19. Jahrhundert; er spricht von ihren drei Dimensionen: der räumlichen, zeitlichen und sozialen Expansion. (Volkskultur in der technischen Welt. Stuttgart 1961.)
20 Bausinger (wie Anm. 3), S. 139.
21 Eine alljährliche Veranstaltung im Volkshochschulheim Inzigkofen, einem ehem. Nonnenkloster bei Sigmaringen (1988).

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