"Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins"

von Milan Kundera
Buchtipp von Birgit Hochmut

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Warum die unerträgliche Leichtigkeit des Seins? Weil es ist wie das Leben. Weil es mehr ist als ein Roman. Weil es aus dem Leben schreibt. Weil es mehr ist als das Leben. Weil es vom ungelebten Leben erzählt; - ungelebt deshalb, weil die Figuren des Romans an Grenzen entlanggehen, denen man oft ausweicht. Hinter diesen Grenzen "beginnt das große Geheimnis, nach dem der Roman fragt", wie Milan Kundera selbst schreibt. Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins ist eine der schönsten, der aufregendsten, der anstrengendsten und der traurigsten Liebesgeschichten, die ich gelesen habe.

Vor dem Hintergrund des Prager Frühlings behandelt Kundera in seinem 1984 erschienenen Roman – der zurecht zu den Klassikern des 20. Jahrhunderts zählt -nicht vorrangig die gesellschaftspolitische Situation des Landes, sondern interessiert sich ganz explizit für verschiedene Charaktere und unterschiedliche Handlungsmotive der Menschen. In faszinierend meditativer Weise analysiert der große Romancier des 20. Jahrhunderts das menschliche, allzumenschliche Gefangensein in seinem Sein, seinen Trieben, seinen Gefühlen, seinen Leichtigkeiten und seiner Schwermut. So stellt er in diesem Roman die Frage, ob Liebe in unserer Zeit noch möglich ist.

Der Roman erzählt die wechselhafte Geschichte zweier ungleicher Paare. Zum einen gibt es das Paar Tomas und Teresa, das die Rahmenhandlung absteckt. Zum anderen die Beziehung zwischen Sabina und Franz. Der Chirurg Tomas, ein Don Juan und Tristan in einer Person, hin und hergerissen zwischen seinen Affären und der tiefen Liebe zu Teresa, heiratet schließlich doch Teresa, die Serviererin, die ihm vom Zufall zugespielt wurde. Gemeinsam mit ihr emigriert er in die Schweiz, wohin zuvor schon die Malerin Sabina, eine seiner zahllosen Geliebten, gezogen ist.

Sabina lernt dort den romantisch verträumten Universitätsprofessor Franz kennen, den sie jedoch bald wieder verlässt, da sie sich nicht in die Rolle der Konkurrentin zu seiner Ehefrau drängen lassen will. Ihr Verständnis von Liebe ist ein völlig anderes als das von Franz. Auch die Wörter haben für sie eine völlig andere Bedeutung wie die seinen. Aus diesem Grund erstellt Kundera im Roman ein Verzeichnis unverstandener Wörter um die unterschiedlichen Codes von Sabina und Franz, wie Frau, Treue, Verrat etc., die es zu entschlüsseln gilt. Für Sabina ist die Liebe der Fluchtweg aus einer Welt der Pflichten. Sie lebt, wie auch Tomas, die Leichtigkeit der Existenz. Demgegenüber gruppieren sich Franz und Teresa, die das Schwere verkörpern.

Teresa, die Träumerin, die ihre kindliche Unschuld bewahrt hat und deren Ehrlichkeit und Offenheit sie zu einer authentischen Figur machen, liebt Tomas vorbehaltlos und vollkommen. Unentwegt leidet sie unter Tomas Affären und hat deshalb Albträume. Da Tomas seine Seitensprünge auch in der Schweiz nicht unterlässt, geht Teresa zurück in das "Land der Schwachen", wohin ihr Tomas dann wenig später folgt, obwohl ihm aufgrund einer regimekritischen Veröffentlichung bewusst ist, dass er dort seine Stellung als Arzt verliert. Er wird Fensterputzer. Später lebt das Paar in einem Dorf auf dem Land. In dem Moment, wo sich das Gleichgewicht der Kräfte einstellt, in dem beide erkennen, dass sie nicht ohne einander sein können, und dass die eine nicht stärker ist als der andere ist, - in dem Moment, da die beiden nach langen Irrungen und Wirrungen endgültig zueinander gefunden haben, kommt das Paar bei einem Autounfall ums Leben. Doch, im Tode vereint, hat die Liebe gesiegt, auch wenn sie auf diesem Planeten nicht mehr lebbar ist.

Mit seiner genialen, sprachlichen Virtuosität komponiert Milan Kundera eine Symphonie der Liebe, die am Schluss zu einem Requiem wird. Getragen von der polyphonen Vielschichtigkeit seiner Protagonistinnen und Protagonisten lässt er alle Meinungen, Stimmungen, Gefühle, - die Schwermut und das "Laisser faire" - seiner vier Figuren gleichermaßen – gleichberechtigt nebeneinander – zum Ausdruck kommen. Mit Teresa, die später zur Fotografin von Menschen und Ereignissen wird, gibt der Meister der Sprachkomposition im Roman selbst die Definition zu seinem Roman: "Wenn ich dich so sehe, habe ich den Eindruck, dass du dich eben in das ewige Thema meiner Bilder verwandelst. Die Begegnung zweier Welten. Eine Doppelbelichtung."

Diese Ambivalenz der Figuren wird für die Leserin und den Leser derart hautnah fühl- und erlebbar, dass man sich für keine Person entscheiden, sich mit keiner Person identifizieren kann. Denn niemand ist schlecht und niemand ist gut. Milan Kundera erzählt nicht in diesen Kategorien. Er eröffnet ein so großes Spektrum an "süßer Leichtigkeit" und tiefster Schwermut, dass man beim Lesen einfach hin und her gerissen bleibt. Mal lacht man mit ihnen. Mal weint man mit ihnen. Kundera bringt einem die Vielfalt und die Unterschiedlichkeit der Welt so nahe, dass man beim Lesen auf einmal das Gefühl hat, als könne man die ganze Welt verstehen. Und doch verzweifelt man an der Unvereinbarkeit der Gegensätze des Seins. Und hofft auf Harmonie, die sich am Schluss dann doch erfüllt. Milan Kunderas Unerträgliche Leichtigkeit des Seins ist spannend wie ein Krimi, - ein menschlicher, allzumenschlicher Roman.

Übrigens: Wer noch nicht genug von diesem überaus intelligenten Roman von Milan Kundera hat, kann sich den Film von Philip Kaufman aus dem Jahr 1987 anschauen, der mit dem einfühlsamen Gespür seiner Regie sowie der Auswahl seiner ProtagonistINNen einen Volltreffer im Genre der Literaturverfilmung gelandet hat.

Verlag: Fischer Taschenbuch Verlag
Erscheinungsdatum: 1985
ISBN: 3-596-25992-4
Preis: Euro 9.90

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