Dreimal Heimat
                                    von Dr. Erna Subklew
Was ist Heimat? Ich glaube, dass Heimat für jeden etwas anderes bedeutet. Für den einen ist es der Ort, für den anderen ein Gefühl, ein Geruch, eine Musik oder die Fähigkeit, ohne zu überlegen in der jeweiligen Gesellschaft handlungsfähig zu sein.

Die erste Heimat

Vor langen Jahren wurde S. in Hindenburg geboren. Ihre Geburtsstadt ist keine schöne Stadt. Sie ist Anfang des vergangenen Jahrhunderts aus vier Industriedörfern gegründet worden, von Bergwerken und Hütten durchzogen, ohne markante Gebäude. Die Häuser vom Qualm der Schornsteine grau.
Die ganze Großfamilie wohnte dort. Ging man rechts um die Ecke, war man in zehn Minuten bei der einen Tante, ging man links herum, war man bei der anderen. Und die Großmutter und drei ihrer Kinder samt Familien wohnten in dem selben Haus. Man feierte zusammen schöne Feste. Vor allem die Geburtstage der Großmutter sind allen in Erinnerung. Sie war nämlich am Nikolaustag geboren und sämtliche Kinder und Enkelkinder kamen zum Gratulieren und natürlich auch der Nikolaus. Der las einem dann die Schandtaten des Jahres vor - manchmal wurde man auch gelobt. Aber Süßigkeiten gab es immer.
 
Die zweite Heimat
S. Vater arbeitete schon immer im Ausland. Sie sah ihn höchstens einmal in sechs Monaten. Eines Tages sagte der Vater, dass der neue Vertrag über drei Jahre ginge und die Mutter samt Kindern mit ins Ausland kommen könnten.
So zog die Familie nach Istanbul. Zunächst unterschied sich die Wohngegend nicht sehr von der alten. Es gab Kohleberge und  Schornsteine - ein Elektrizitätswerk. Aber die Gegend! Zwischen den „Süßen Wassern von Europa" ringsherum von Wasser umgeben.
Die Kinder, die innerhalb der Werksmauer wohnten, sprachen alle deutsch, die die außerhalb wohnten nicht. Aber es dauerte nicht lange und man suchte gemeinsam mit denen da draußen herrenlose Kätzchen und Hündchen, entflöhte und wusch sie. In die Schule zu gehen, war ein halbes Abenteuer, denn man musste jedes Mal mit dem Schiff fahren. Und erst die Schule! Zwar war die Unterrichtssprache Deutsch, aber kaum ein Kind sprach diese Sprache zu Hause, sondern eher Griechisch, Spaniolisch, weniger Türkisch.
 
Die dritte Heimat
Durch den Krieg musste man diese Heimat verlassen. Es kamen Jahre, in denen man keine neuen Heimatgefühle entwickeln konnte, denn die Zeit, die man an einem Ort wohnte, war zu kurz. Man musste immer wieder den Wohnort wechseln.
Endlich kam man nach Frankfurt und hier beschloss man zu bleiben. Man tat alles, um nicht wieder woanders hingehen zu müssen. Selbst ein Haus erwarb man, obwohl man es sich gar nicht leisten konnte. Aber S. war ja nun längst erwachsen, verheiratet und Mutter von vier Kindern. Da wanderte man nicht einfach weiter. Die längste Zeit des Friedens, die Deutschland je hatte, half dabei.
Nun wohnt S. schon ein halbes Jahrhundert in Frankfurt. Längst wohnen die Kinder in anderen Gegenden Deutschlands. Für S. aber ist Frankfurt zur Heimat geworden. Sie möchte nirgends anders wohnen.

Überlegung
Wenn man aber fragt: "Woher kommen Sie?" so antwortet sie: "Aus Frankfurt, aber eigentlich komme ich aus Oberschlesien." Und wenn sie wieder einmal nach Istanbul fliegt, was allmählich immer seltener wird, so fühlt sie sich dort richtig zu Hause und wird „türkisch". So sehr, dass schon manche Türkin gesagt hat: „Du bist türkischer als wir."
Es stellt sich nicht die Frage: Hat man eine Heimat oder kann man mehrere haben?

 
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