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Der Zunftbrunnen in Reutlingen
                                     von Heike Jung
Willkommen im zünftigen Reutlingen, der ehemals freien Reichsstadt und heutigen Kreisstadt mit 100.000 Einwohnern am Fuße der Schwäbischen Alb. Unter den Sehenswürdigkeiten im Zentrum möchte ich Ihren Blick auf den Zunftbrunnen lenken

  Lokaler Bezug zum Motiv

Der Aachener Bildhauer Bonifatius Stirnberg erhielt im Jahr 1983 den Auftrag, diesen Brunnen zu Ehren der historischen Zünfte zu gestalten.
Er entwarf zwölf Figurenszenen, die die Handwerksgruppen symbolisieren, welche ab 1500 die wirtschaftliche und politische Macht in Reutlingen besaßen. Reutlingen war damals eine freie Reichsstadt mit großem Handelsaufkommen.
Die damals in Zünften organisierten Berufe waren: Weingärtner, Küfer, Karcher, Krämer, Schneider, Tucher, Gerber, Kürschner, Schuster, Schmied, Bäcker und Metzger – also allesamt mehr oder weniger aufs leibliche Wohl ausgerichtete Experten.


Beschreibung des Brunnens
Jeder der Genannten hat auf einer bühnenartigen Sockelplatte in einer runden Nische Platz und geht seiner spezifischen Tätigkeit nach. So schiebt der Bäcker gerade Brot in den Backofen, der Schuhmacher arbeitet mit seinen Gerätschaften, auf einem Schemel sitzend, inmitten einer Anzahl von Schuhpaaren, und der Krämer bedient hinter seiner Ladentheke eine einkaufende Hausfrau.
Bekrönt wird die figürliche Szenerie von einem bewässerten Aufsatz, der die Namen aller heutigen Handwerkerverbände, Zünfte und Innungen enthält, da der Brunnen von diesen und der Stadt Reutlingen gestiftet wurde.

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Die plastischen „Momentaufnahmen“ faszinieren Jung und Alt. Für Kinder sind die Bronzefiguren besonders interessant, weil die Sockelplatten Drehscheiben sind, die man ein Stück weit verschieben kann, um die Szene von allen Seiten zu besichtigen. An manchen Stellen zeigt die Bronze daher glänzende Streichelspuren

Der Zunftbrunnen im Schulunterricht
Auf dem Weg von einem Gebäude ihrer Innenstadtschule zur Dependance am Marktplatz wandern die Schüler des traditionsreichen Friedrich-List-Gymnasiums tagtäglich am
Reutlinger Zunftbrunnen bei der Marienkirche vorüber. Was liegt da näher, als sich einmal intensiver mit der figürlichen Darstellung dieses Kunstwerks zu beschäftigen? Schüler sind fasziniert von der Bewegungsmöglichkeit der Figuren. Außerdem erinnert die liebevolle detailreiche Gestaltung an Puppenstuben.
Mit dem Blick auf den Brunnen war es immer ein Leichtes, sie für das Thema Zünfte zu motivieren. Als Abschlussarbeit durften sie dann im Werkraum ihren Lieblingshandwerker als große buntbemalte Flachfigur am Stecken selbst entwerfen!
Das folgende für eine Schüleraufführung mit Flachfiguren selbstverfasste Gedicht illustriert noch einmal verbal die zwölf verschiedenen Zünfte

Gedicht: Zunftbrunnen
Reutlingen war einst umgeben
von Hängen voller edler Reben.
Daraus gewann den Wein ein Stand,
der Weingärtner allhier genannt!
Ihr seht den Meister Trauben testen,
er wählt natürlich nur die besten.

Genau wie er ist Traubenprüfer
sein Nachbar, der Kollege Küfer,
Kelleraufseher einerseits,
doch hat das Kosten auch viel Reiz.
Dazu muss Fässer er beschlagen
und sie zum Karcher roll’n und tragen.

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Karcher – so etwas wie Spedition,
vererbt vom Vater auf den Sohn,
hielt dies Gewerbe sich bis heute,
und hierorts heißen so noch Leute!
Mit ihren Karren – hochbepackt,
kutschierten sie, was eingesackt
unterm Plandach – mit Geklirr,
zum Beispiel Töpfe und Geschirr.

Es kommt der Krimskram irgendwann
in Dorf und Stadt beim Krämer an,
der all die Schätze dieser Welt
säuberlich im Regal abstellt.
Noch heute find’st du Knopf wie Faden
bestimmt im Tante-Emma-Laden.

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Und schon hört man den Schneider schrei’n:
„Ihr Herrn und Damen, tretet ein
in mein Geschäft der Kleiderkunst,
die nicht beim Adel nur in Gunst....
nein, meine Röcke, Wams und Kragen
sind auch von Bürgersleut zu tragen.“

Der Tucher im Haus nebendran
fertigt für ihn die Stoffe an.
Er hockt mit Mutter, Frau und Kind
am Webstuhl, wo viel Fäden sind,
entwirft und schafft, so gut kann´s keiner,
und wär’ heut wohl Textildesigner!

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Gerber, die Tierfelle gerben,
Leder klopfen, schneiden, färben,
gehör’n am Ort zur Tradition.
Sie gab´s um 1500 schon.
Und Jahr für Jahr gibt´s noch Geraufe
am Brunnen bei der Gerbertaufe.

Der Kürschner nimmt das Fell entgegen
und erteilt uns seinen Segen,
indem geschickt er Tag und Nacht
warme Kleidung daraus macht,
Lammfelljacken, Muffs und Mützen,
die uns gegen Kälte schützen.

Der Schuster sitzt im Kämmerlein
und richtet seinen Leisten ein.
Dann schlägt das Schuhwerk er zurecht,
derb, zum Beispiel, für den Knecht,
oder Pumps und Stiefeletten,
wie die Fräuleins sie gern hätten.

Den Lehrbub schickt er fort zum Schmied,
wenn mal ein Werkzeug sich verzieht.
Der fackelt gar nicht lange
und packt mit seiner Zange
ein glühendes Stück Eisen an,
das flugs zur Ahle werden kann.

Es fehlt uns noch die Zunft der Bäcker,
die meist kreiern, was süß und lecker,
Brötchen und Kuchen aus Getreide
und Torten – welche Augenweide!
Doch viel wichtiger ist Brot,
zum Überleben in der Not.

Den Metzger sehen wir zuletzt,
wie er gerad sein Messer wetzt.
Tja, in dem Beruf ist töten
unerlässlich und vonnöten..
.Ohne ihn würd’ nie geraten
Schinken, Wurst und Festtagsbraten!

So, Freunde, diesen Zwölferreigen
wollten wir euch hiermit zeigen!
(Heike Jung)

Meisterinnen gab es nicht!
Übrigens ist in dem ganzen Männerreigen nur eine einzige Frau zu sehen und diese kauft ein, stellt also vielleicht die Ehefrau eines Zunftmeisters dar. Die Meister mussten verheiratet sein, aber Frauen konnten in Reutlingen nicht Meister werden und waren folglich keine Vollmitglieder der Zunft.
Doch als Frau Meisterin oblag ihnen unter anderem Verkauf, Qualitätsprüfung, Buchführung sowie Haushaltsführung mit Versorgung von Gesinde und Lehrlingen – alles in allem auch eine Menge Arbeit im zünftigen Betrieb.
Die Frauen-Geschichtswerkstatt macht darauf aufmerksam, dass „die Abbildungen der zünftigen Werktätigen am Brunnen leider nur einen Teil der damaligen Arbeitswelt herausgreifen.“
Denn viele Berufe waren „unzünftig“, das heißt freie und meistens weibliche Berufsfelder, wie etwa Wäscherin, Spinnerin, Magd, Totengräberin, Heilkundige, Hebamme, Gastwirtin oder Bortenweberin.

Reutlingen hat noch mehr zu bieten
Wer sich die einstige freie Reichsstadt als Ausflugsziel vornimmt und sich mit der Geschichte beschäftigen möchte, findet weitere historische Sehenswürdigkeiten, die er selbst erkunden oder sich bei einer Führung erklären lassen kann. Eine Bildergalerie stimmt darauf ein.

Links

Bildergalerie zu Sehenswürdigkeiten

Frauengeschichtswerkstatt Reutlingen

Alle Bilder von Margret Kugler