Erfahrungsberichte

Meine Gastgeberin Vera – wie eine Freundschaft entsteht

Bezug: Deutsch-russisches Begegnungsseminar im Mai 2009

Nach 10stündiger Busfahrt kommen wir am Mittwoch um Mitternacht in Kursk an. Es ist dunkel, kaum Straßenbeleuchtung, kalt. Wir "entknoten" unsere Beine und steigen steif aus dem Bus. Draußen steht erwartungsfroh eine Gruppe von etwa 15 Menschen, unsere zukünftigen Gasteltern, die mitten in der Nacht ausgeharrt hatten, um uns zu empfangen.

Die russischen und deutschen Senioren

Wir sind todmüde und nicht sehr erwartungsfroh, was und wie unsere künftige Übernachtungsmöglichkeit in dem fremden Russland sein wird. Den Namen meiner Gastfamilie habe ich nach dem Aussteigen aus dem Bus gleich parat, so dass meine Gastmutter Vera sofort auf mich zukommt und mich herzlich begrüßt. Hierbei wird aber gleich offensichtlich, dass es mit der Kommunikation wegen meiner dürftigen Russischkenntnisse und Veras lückenhaftem Deutsch nicht weit her ist. Wir fahren zu viert in einem klapprigen PKW in den Vorortgürtel von Kursk, die Straßen werden immer schlechter, an Plattenbautenansammlungen vorbei, biegen in eine Seitenstraße ein und halten vor einer Reihe vierstöckiger Häuser, mit dürftigen Vorgärten.
Vera und ich betreten den Hauseingang, die Außentür schließt nicht richtig, das Treppenhaus mit defekten Treppenstufen, hässlichem Grünanstrich, es riecht nach DDR. Na, das kann ja "heiter" werden, sind meine Gedanken! Die Wohnungstür, eine Keller-Stahltüre muss mit zwei verschiedenen Schlössern entriegelt werden, wir betreten die Wohnung: Sie ist klein, eine kleine Küche, zwei Zimmer. Aber für mich ein großes Aufatmen: Sauber, gemütlich, gepflegt. Die Küche ist klein, aber es finden sich Herd, Kühlschrank und Tiefkühltruhe, das Bad hat eine Badewanne mit Duschvorrichtung, fließend heiß/kaltes Wasser, normale Toilette, kurz es ist fast wie zu Hause (wie in den 70iger Jahren). Für mich steht ein ganzes Zimmer, das ehemalige Kinderzimmer, komplett zur Verfügung, mit einer gut funktionierenden Liegecouch, die frische Bettwäsche liegt bereit. Ich sinke sofort in einen tiefen Schlaf.

Am nächsten Morgen steht in der winzigen Küche das Frühstück bereit und wir nehmen auf den kleinen Hockern um das Tischlein Platz. Es gibt Muckefuck-Kaffee oder Tee, einen wunderbaren hausgemachten Quark, leidlich gutes Brot, dazu Wurst und Käse, letzterem spreche ich nicht sonderlich eifrig zu. Jetzt, wie verständigen wir uns? KEIN Problem, jede holt sich ihr Wörterbuch herbei, dazu die Brille, denn beide benötigen wir dieses optische Hilfsmittel. Zunächst ist wichtig, das Organisatorische zu klären: Wie lange haben wir für das Frühstück Zeit, was ist unser Programm, was machen wir heute abend? Dann geht es an die essentiellen Details, z.B. dass mir der Quark hervorragend schmeckt: skussna, bolschoi spasibo. Vera erklärt daraufhin "mit Händen und Füßen", wie sie den Quark selbst zubereitet hat, sie bückt sich, um die Schüsseln zu erklären, mit denen sie arbeitet usw. Wir beide merken gleich, dass wir uns mögen, und dass ich mich hier wohl fühlen werde.

Ein wenig besser lernen wir uns erst am Samstag Nachmittag, zwei Tage nach unserer Ankunft in Kursk kennen. Ich selbst habe Postkarten von Ulm mitgebracht, auch einige kleinere Mitbringsel. Außerdem hatte ich noch in Ulm ein kleines Fotoalbum angefertigt, von Ulm, von meiner Familie und von meinen Hobbies. Gerade dieses Fotoalbum stellte sich als "Volltreffer" heraus: Wir mussten nicht mehr so viel in den Wörterbüchern nachschlagen, die Bilder waren teilweise selbsterklärend. Außerdem öffneten diese Bilder den Zugang zum Herz von Vera: Ich hatte mein Persönlichstes "frei" gegeben. Sie kramte ihre eigenen Fotoalben hervor, so dass ich jetzt endlich ein wenig mehr über sie selbst erfuhr. Sie ist seit zwei Jahren Witwe. Sie hat zwei Töchter, von jeder einen Enkelsohn. Sie lebte etwa 30 Jahre in der Nähe von Murmansk, wo sie ihren Mann kennen lernte, eine Familie gründete, die Töchter heranwuchsen. Nach der Berentung zog sie nach Kursk zurück. Von Beruf war sie Betriebswirtin, ob sie nach Murmansk "abkommandiert", "strafversetzt", normal versetzt, freiwillig gezogen ist, dieses konnte ich wegen unserer geringen Sprachkenntnis nicht klären. Es stellte sich jedoch heraus, dass Vera weit besser Deutsch verstand als sprach, so dass die Kommunikation von Tag zu Tag besser wurde (nur ich selbst habe mit meinem Russisch kaum zugelegt). Veras Fotoalben belegen auch, dass sie eine richtige Schönheit war. Ich fand Ähnlichkeiten mit Sophia Loren und begrüßte Vera die nächsten Morgen immer mit "dobre utra, Sofia", worüber sie immer wieder lachen musste. Es ist nicht die übliche russische Schönheit, sondern sie hat rehbraune sprechende Augen, ein ebenmässiges Gesicht, dunkle Haare, einen volllippigen Mund. Die leicht traurigen Gesichtszüge, der Ehemann ist ja noch nicht so lange verstorben, geben ihr einen melancholischen Charme. Sie hat ein ansteckendes herzerfrischendes Lachen, ihr Gesichtsausdruck ist lebhaft und freundlich offen. Sie hat immer noch eine gute Figur und wirkt deutlich jünger als ihr Alter von 56 Jahren.

Der folgende Sonntag, der russische Ostersonntag, sollte in der Familie verbracht werden. Vera und ich hatten am Abend vorher ausgemacht, dass wir weder um Mitternacht den Moskauer Gottesdienst im Fernsehen anschauen noch in die Kursker Ostermette gehen, sondern einfach ausschlafen wollten. Das hatte auch seinen Grund, denn am nächsten Morgen "ging es rund" bei Vera. Große Vorbereitungen standen an: Es wurden Blinie und Piroschki gebacken, der Osterkuchen fertig dekoriert, verschiedene Salate hergerichtet. Und schließlich kamen die Gäste. Es ist unglaublich, wie viele Mahlzeiten auf dem kleinen Couchtisch im Schlaf/Wohnzimmer von Vera Platz finden, und dass man 6 Erwachsene plus zwei Kleinkinder auf den beiden Küchen-Höckerchen und zwei Stühlen unterbringen kann. Die beiden Töchter waren mit Schwiegersöhnen und den 8 Jahre bzw. 6 Monate alten Enkelkindern zu Besuch gekommen und wollten sich auch voll Neugierde die fremde deutsche "Oma" ansehen.

Osterkuchen

Beide Töchter leben mit ihren Familien in Kursk, eine Tochter in unmittelbarer Nachbarschaft zur Mutter. Der 8 Jahre alte Danilo hat schon mehrere Schach-Medaillen gewonnen, sie und seine Urkunden hängen in "meinem" Schlafzimmer. Danilo spricht ein wenig Englisch, im Gegensatz zu seiner Mutter und Tante, die in Murmansk aufgewachsen waren und studiert haben, aber offensichtlich werde deutsch noch englisch lernen mussten. Nachdem ich die Enkelkinder ausgiebig bewundert und das Baby auf dem Schoss gehalten hatte, war Zeit für das Schläfchen der Kinder, und auch von ihrer Oma. Deshalb zieht mich Vera "aus dem Verkehr" und schickt mich mit dem einen Schwiegersohn, der auch ein wenig Englisch spricht, zum Tischtennisspielen. Es gibt in dem Wohnviertel ein kleines Sportzentrum mit Tennishallen, Krafträumen und auch mit Tischtennisplatten. Wir vergnügen uns eine ganze Stunde lang, beide nicht sehr professionell im Tischtennisspiel, er mit Witz und Humor, plaudern ein wenig Englisch und verstehen uns prächtig.

Am späten Nachmittag gehen Vera und ich in eine Orthodoxe Kirche, in der sie mit dem religiösen Ritus grüßt, auch einige Minuten still verharrt. Ich kann beobachten, wie die Kirchgänger die Ikonen oder Bilder küssen, auch am Boden niederknien, auch diesen küssen. Einen orthodoxen Mönchsgesang haben wir in den etwa 30 Minuten, die wir dort geblieben sind, nicht vernommen.

Orthodoxe Kirche

Am Abend entführt mich Vera in ein Konzert mit fünf solistischen Instrumenten. Wir hatten zwei Tage zuvor dasselbe Orchester erlebt. An diesem Abend verspüre ich jedoch eine besondere Intensität im Spiel, in der Auswahl der Stücke, in der Reaktion des Publikums im vollbesetzten Saal, kurz eine besondere Atmosphäre. Glücklicherweise werde ich aufgeklärt: Eine hinter mir sitzende Touristin aus Meiningen, die russisch spricht und mit einer Gruppe zu Besuch ist, offenbart mir, dass es sich hier um eines der berühmtesten russischen Orchester handle und sich deren Können auf einem besonders hohen Level bewege. In der Pause kaufe ich mir eine CD, weil ich von der Musikalität der Leute begeistert bin, obwohl mir normalerweise diese Art von Instrumentenzusammenstellung mit Banjol, Mandoline, Gitarre und Schlagzeug nicht so sehr zusagt. Nach dem Konzert führt mich Vera gegen meinen Widerstand auf das Podium, wo ich den Musikern einzeln vorgestellt werde, Gemeinschaftsfotos gemacht werden und die Instrumentalisten auch die CD unterschreiben müssen. Die Musiker tun es offensichtlich gerne und haben eine Freude an meinem Interesse. Es stellte sich im Nachhinein heraus, dass dieser Konzertabend ein Jubiläumskonzert dieses Orchesters war, zu ihrem 15jährigen Bestehen, also ein "highlight". Leider habe ich nicht heraus bekommen, ob Vera nun diese Leute persönlich kennt oder ob es Brauch ist, so auf die Bühne zu stürzen und Freunde bekannt zu machen. Am Ende wusste ich gar nicht, wer sich denn nun mehr geehrt fühlte, die Orchesterleute oder ich? Das typische russische Osterfest habe ich also nun nicht erlebt, wie erhofft. Um so mehr wiegt aber der kurze Einblick in eine "normale" russische Mittelstandsfamilie und ihre Lebensweise.

Carmen hatte uns gewarnt, dass wir von Kursk mit Tränen Abschied nehmen werden. Es ist in der Tat so eingetreten: Vera und ich umarmten uns, uns liefen die Tränen, obwohl Vera ein eher zurückhaltender, stiller und bescheidener Mensch ist.

Vera und ich

Mit den Töchtern habe ich email-Adressen ausgetauscht. Vielleicht gelingt ja ein Gegenbesuch in Ulm, sie sind jedenfalls herzlich willkommen bei mir, ebenso auch der kleine Danilo. Mit ihm sieht die russische Zukunft gar nicht so schlecht aus.


Wenn sie mit dem Autor/Autorin des Textes in Kontakt kommen möchten, wenden Sie sich bitte an leserbrief@europa-erleben.net



Barbara Heinze
eingereicht von
Barbara Heinze
Kategorie
Begegnungen helfen verstehen
Datum
06.07.2009


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