Erfahrungsberichte

Unterschiedlichen Einstellungen zu Behinderten

Die erstaunlich unterschiedlichen Einstellungen zu Behinderten, die ich in Europa antraf, während ich von 1987 bis 1993 Präsident des Dachverbandes der europäischen Muskelkranken-Selbsthilfeverbände war.

Ich will vorausschicken, dass ich selbst Schwerbehinderter bin: 1978/79 machte sich in meinen Beinen erstmalig ein progressiver Muskelschwund bemerkbar, der mich von 1981 an zur Benützung eines Gehstocks zwang. 1986 musste dieser dann gegen einen Rollstuhl ausgetauscht werden. Deswegen trat ich Anfang der 1980er Jahre der Selbsthilfevereinigung der deutschen Muskelkranken (DGBM) bei, arbeitete bald auch im Vorstand mit, wurde 1986 Vorstandsvorsitzen-der und 1987 zusätzlich für sechs Jahre der Präsident der Dachorganisation der europäischen Muskelkrankenselbsthilfeverbände (EAM-DA). In diesen sechs Präsidentenjahren besuchte ich praktisch alle 26 Mitgliedsländer dieses Dachverbandes und lernte recht intensiv ken-nen, wie unterschiedlich damals in Europa die Einstellungen zu Krankheit und Behinderung bei den Betroffenen selbst, bei den Ange-hörigen, aber auch bei den Ärzten war. Ich sage bewusst „damals waren“, weil sich auf diesem Gebiet inzwischen besonders viel geändert hat. Übrigens habe ich es damals als meine Pflicht angesehen, Dinge, die mir im europäischen Ausland besser gefielen, auch bei uns an den höheren Standart anzugleichen.
Generell konnte ich schnell einen Trend feststellen: Die europäischen Selbsthilfeverbände waren am frühesten in Skandinavien und Großbritannien gegründet worden, später dann in Mitteleuropa, und noch später in Südeuropa und auf der iberischen Halbinsel. Entsprechend verschieden war der Fortschritt bei der Versorgung der Betroffenen. Während die Behinderten in Skandinavien schon viel über ihre Selbstbestimmung und autonomes Leben diskutierten, versuchte sich der deutsche Verband damals gerade erst von der als Bevormundung empfundenen Mitsprache der Ärzte zu emanzipieren. Die italienischen Betroffenen waren zwar bereits in einem Verband organisiert, waren aber noch so wenig selbstbewusst, dass sie sich vom öffentlichen Le-ben weitgehend ausgeschlossen hielten; und in Griechenland und Por-tugal gab es noch gar keine Muskelkrankenselbsthilfe.
In Frankreich verhalfen zu dieser Zeit ein paar hochengagierte Vä-ter betroffener Jungen dem dortigen Selbsthilfeverein mithilfe des Fernsehens zu einem grandiosen Durchbruch, was öffentliche Auf-merksamkeit, Einwerbung finanzieller Mittel und die eigene Betreibung wissenschaftlicher Erforschung der Muskelkrankheiten angeht. In Italien ließ sich dieses „Telekom“ genannte fund raising in gewis-sem Maße kopieren. In Deutschland erwies sich das wegen der Kul-turhoheit der Länder bis heute als unmöglich. So sind Frankreich und Italien, was Erforschung der Muskelkrankheiten anlangt, in Europa (neben Großbritannien) heute führend, während Deutschland jetzt mehr als früher unter ferner liefen fungiert.
In Paris habe ich damals gelernt, dass ganz junge Muskelpatienten schon sozusagen maßgeschneiderte elektrische Rollstühle bekommen sollen, damit sie sich auch in der Schule weitgehend selbständig bewegen können. Bei uns dagegen wurde (und wird heute noch) disku-tiert, ob junge Rollstuhlfahrer in die normale Schule integriert werden sollen. Damit will ich nicht sagen, dass Deutschland in seiner Kultur des Umgangs mit Behinderten in Europa das Schlusslicht ist: in Griechenland saßen zumindest noch in den 90er Jahren die betroffenen Kinder einfach zuhause herum, und ich befürchte, es ist heute nicht viel besser.
Unterstützung der Atmung durch eine hinten am Rollstuhl befestig-te Pumpe, besonders hilfreich bei Patienten mit der progressiven Mus-keldystrophie vom Typ Duchenne, war 1986 in Deutschland bei Ärz-ten und Patienteneltern als eine „Verlängerung der Qualen vor dem Lebensende“ absolut verpönt. Wie erstaunt war ich, als ich in Oslo englische Ärzte und skandinavische Betroffene von dieser neuen Er-rungenschaft schwärmen hörte. Das in Deutschland vorherrschende Vorurteil abgebaut zu haben, halte ich für meinen größten Erfolg in diesen Präsidentenamt.
Zu meinem Erstaunen war der Stand der Versorgung der Muskel-patienten im damaligen Jugoslawien sehr hoch. Das kam dadurch, dass dort sehr früh der „Facharzt für Rehabilitation“ eingeführt wor-den war. Es gab dort also Ärzte, die eine Spezialisierung in Neurolo-gie und in Orthopädie erfahren haben. Diese beiden für Muskelpatienten so wichtigen Disziplinen haben nämlich in der sonstigen europäi-schen Tradition eher wenig Berührungen. In Ulm wurde dieses Dilemma damals erfreulicherweise durch den Bau des Rehakrankenhauses behoben, in dem diese beiden Disziplinen wenigstens räumlich ganz nahe beieinander sind.
Aber ich brauche nicht unbedingt auf im Ausland gemachte Erfahrungen zurückzugreifen, um, was Umgang mit Behinderten betrifft, Unterschiede in den Kulturen aufzuzeigen. Zehn Jahre lang lebte ich in Ulm in der gemeinsamen Nachbarschaft mit einem Fitnesszentrum und einem türkischen Basar. Wenn ich einen schweren Gegenstand aus meinem Auto ausgeladen haben wollte, hatte ich also die Wahl, einen muskelgestählten Deutschen oder einen ganz normalen Türken um Hilfe zu bitten. Schnell lernte ich, dass die Fitnessbewussten sich mit einem Rollstuhlfahrer höchst ungern, wenn überhaupt abgaben. Für die Türken, egal ob jung oder alt, war und ist das kein Problem: sie helfen immer bereitwilligst, oft sogar schon, bevor man sie um Hilfe bittet. Das ist wirklich ein besonders eindrucksvoller Unterschied zwischen den beiden Kulturen[1], den die Türken auch nach Deutschland hinüberretten können: diese selbstverständliche Hilfsbereitschaft!

[1] Der türkische Muskelkranken-Selbsthilfeverband wurde gerade damals, und ist heute noch, Mitglied der europäischen Dachorganisation EAMDA


Wenn sie mit dem Autor/Autorin des Textes in Kontakt kommen möchten, wenden Sie sich bitte an leserbrief@europa-erleben.net



eingereicht von
Dr. Reinhardt Rüdel
Kategorie
Ehrenamtlich im In- und Ausland tätig sein
Datum
21.07.2009


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