Erfahrungsberichte

Mit geschärftem Blick

Lernen im ikubiz

Das Interkulturelle Bildungszentrum in Mannheim (ikubiz) befasst sich seit 1983 mit Schülerinnen und Schülern Mannheimer Haupt- und Berufsschulen. Ein Projektschwerpunkt lautet: „Übergang zwischen Schule und Beruf“. Bei der Beratung wird dabei auf migrationsspezifische Erfahrungen Wert gelegt. Ein Integrationsbeispiel aus meiner Beratungstätigkeit soll die Arbeit des "ikubiz" verdeutlichen. Das Beispiel zeigt ein Stück Lebensgeschichte von Gülhan, einem Mädchen aus der Türkei, das am Ende der 5. Klasse zur Beratung kam. Sie hatte gerade in einem Vorbereitungsjahr in einer Mannheimer Hauptschule Grundkenntnisse der deutschen Sprache erworben.

Gülhan
Sie war 1990 mit ihrer Mutter und ihrer Schwester zu ihrem Vater nach Mannheim gekommen und sollte nun mit 14 Jahren in die 6. Klasse versetzt werden. Ihre Noten aus der 5. Klasse waren sehr gut. Nach meiner Beratung fragte Gülhan in ihrer Schule, ob es möglich sei ein Schuljahr zu überspringen und in die 7. Klasse versetzt zu werden. Nach einem Gespräch mit der Klassenlehrerin, den Eltern und der Schulleitung wurde diesem Wunsch - zunächst auf Probe - entsprochen. Gülhan bestand die 7. Klasse, nachdem sie durch unsere Vermittlung im Fach Englisch Nachhilfe-Unterricht nehmen konnte. Mit großem Ehrgeiz und Fleiß machte sie einen ausgezeichneten Hauptschulabschluss und konnte die zehnte  Werkrealschulklasse besuchen, die sie mit einem sehr guten Realschulabschluss beendete.

Verstehen lernen
In dieser Zeit besuchte sie immer wieder das ikubiz und holte sich Rat und Mut. Meine Besuche bei Gülhans Familie ermöglichten mir genaueren Einblick in Gülhans Lebenssituation. Diese Gespräche waren für sie und ihre Familie besonders wichtig. Nach längerer Zeit gelang es mir, das Vertrauen der Eltern zu gewinnen. Dies wiederum half mir familiäre Schwierigkeiten und eine andere - mir zunächst fremde - Sozialisation zu verstehen. Es ging dabei nicht darum diese vollständig zu akzeptieren, sondern darum sie als wichtige Gegebenheit für Gülhan zu sehen.

Bedenken ausräumen
So war es Gülhan möglich in ein Wirtschaftsgymnasium zu wechseln und dort das Abitur zu erreichen. Durch unseren ständigen Kontakte mit Gülhans Familie gelang es ihr, dass ihre Eltern zu ihrem Studienwunsch ja sagten. Sie wollte Lehrerin werden. Ihre Mutter unterstützte die Tochter, war aber noch unsicher, was die Dauer des Studiums und die beruflichen Möglichkeiten danach betraf. Gemeinsam mit einem türkischen Mitarbeiter konnten wir in einem weiteren - in der Muttersprache geführten - ausführlichen Gespräch Bedenken ausräumen. Auch der Vater hatte dann seine Erlaubnis für den Berufswunsch der Tochter gegeben. Im Januar 2005 begann Gülhan ihr Referendariat in einer Stuttgarter Realschule. Seit 2007 unterrichtet sie an einer Mannheimer Realschule. Ich freue mich mit ihr.

Reflexion
Bei meiner Arbeit im ikubiz konnte ich Menschen aus verschiedenen Ländern kennen lernen. Das half mir - zunächst unbewusst - mich einer interkulturellen Kompetenz zu nähern. Diese Erfahrungen führten dazu, dass ich meine eigene Sozialisation, meine Geprägtheit, meine Kultur hinterfragen lernte. Außerdem erlebte ich mich nun bei Begegnungen in anderen Ländern vorsichtiger. Was die Wissenschaft "Enkulturation" nennt, ist im Erwachsenenalter nichts anderes als die Prozesshaftigkeit und Veränderbarkeit der eigenen kulturellen Identität anzunehmen.

Kulturelle Muster
Die Enkulturation beginnt übrigens bereits in der Kindheit, dort durch die ersten Bezugspunkte, wie Eltern, Kindergarten, Schule etc. Dieser Prozess vollzieht sich über Nachahmung und prägt den Menschen für sein restliches Leben entscheidend.
Heute nehmen wir - soweit wir offen und dialogbereit dafür sind - im Laufe unseres Lebens zusätzliche neue kulturelle Muster an. Dies geschieht vor allem dann, wenn wir mit Freunden ausländischer Herkunft enger zusammen sind aber auch dann, wenn wir uns in einem anderen Land neuen Begegnungen nicht verschließen. Ich danke an dieser Stelle Gülhan und vielen anderen Ratsuchenden. Sie haben mich beim Interkulturellen Lernen begleitet und waren sehr wichtig für meine Entwicklung.

www.ikubiz.de  Interkulturelles Bildungszentrum Mannheim


Wenn sie mit dem Autor/Autorin des Textes in Kontakt kommen möchten, wenden Sie sich bitte an leserbrief@europa-erleben.net



Hanna Mueller
eingereicht von
Hanna Mueller
Kategorie
Begegnungen helfen verstehen
Datum
29.07.2009


Zurück

Verwandte Artikel

Keine verwandten Artikel vorhanden.