Erfahrungsberichte

Litauen war schon immer ein europäisches Land

Das sagt Frau Holzmann und fährt fort: „Was haben wir uns gefreut, als sich  Litauen 2004 endlich an die Europäische Union anschließen durfte. Wir haben die ganze Nacht gefeiert." Frau Margarete Holzmann lebt in Gießen. Sie ist erst Anfang der sechziger Jahre mit ihrer Mutter von Litauen nach Westdeutschland gekommen.

Ich habe sie gefragt, wie es dazu kam. Hier ihr Bericht:

„Mein Vater kam 1917 als deutscher Soldat nach Kaunas, wo er in der Flugabwehr eingesetzt war. Er ist in Posen geboren, als Sohn jüdischer Eltern. Der Vater war königlicher Amtsrichter, der Sohn Kunstmaler.

In Kaunas lernt er eine intakte ostjüdische Welt kennen und schätzen. Er heiratet nach dem Krieg und lässt sich mit seiner Familie in Kaunas nieder. Er eröffnet die Deutsche Buch- und Lehrmittelhandlung Pribacis, eine Filiale des bekannten Breslauer Verlags Priebatsch." Wie Frau Holzmann berichtet, wurde nicht nur deutsche Literatur verlegt und verkauft, sondern auch französische, litauische und englische. In den dreißiger Jahren konnte man bei Pribacis die gesamte Exilliteratur finden, die im deutschen Reich verboten war.

Frau Holzmann besuchte wie ihre  Schwester zunächst das deutsche Gymnasium, wechselte aber später in das litauische Gymnasium. Die Eltern hatten die deutsche Staatsbürgerschaft aufgegeben und die litauische angenommen. Die Deutschfreundlichkeit der jüdischen Bürger war, nachdem 1933 in Deutschland die Nazis die Regierung stellten, verschwunden.

Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs nahmen die Sowjetrussen Litauen ein und alles, was in Privatbesitz war, wurde nationalisiert. 1941 besetzten die Deutschen  Litauen. Der Vater Max-Friedrich Holzmann wurde verhaftet und ermordet.

1943 kamen die Russen wieder und die Holzmanns sollten wie die übrigen Deutschen deportiert werden. Dass  Familie Holzmann vom Deportationsplatz in ihr Haus zurückkehren durfte, ist ein Wunder. Niemand hatte damit gerechnet und so fanden sie bei ihrer Rückkehr bereits Russen in ihrer Wohnung.

Die Ausreiseerlaubnis nach Westdeutschland um 1960 verdankt Frau Holzmann dem Fernsehmoderator von Panorama, Gert von Paczensky.  Der hatte von den Schwierigkeiten der Frauen bei ihrem Bemühen um eine Ausreise gehört und gedroht, im deutschen Fernsehen darüber zu berichten.

„Die Litauer" sagt Frau Holzmann, „waren immer nach Westen orientiert. Mit den Deutschen hatten sie schlimme Erfahrungen gemacht, aber zu Europa wollten sie gehören. Heute wird vor allem Englisch gelernt, Deutsch ist nicht gefragt. Zwar sprechen noch viele im Land russisch, aber mit Rußland und den Russen will man nichts zu tun haben."

(http://www.euractiv.com/de/erweiterung/wiederaufnahme-gesprche-russland-eu-bergeht-litauen/article-177073)

Frau Holzmann hat viele Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Agrar- und Wirtschaftsforschung der Universität Gießen gearbeitet. Sie hatte Agrarwissenschaften studiert.  Heute arbeitet sie noch als Übersetzerin aus dem Russischen und Litauischen.

August 2009


Wenn sie mit dem Autor/Autorin des Textes in Kontakt kommen möchten, wenden Sie sich bitte an leserbrief@europa-erleben.net



Erdmute Dietmann-Beckert
eingereicht von
Erdmute Dietmann-Beckert
Kategorie
Meine Heimat(en)
Datum
28.08.2009


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