Erfahrungsberichte

Deutsch-französische Verständigung

Ich wurde geboren, bevor der Zweite Weltkrieg begann und ein grosser Teil meiner Jugend ist geprägt von Flucht und Bombenangriffen. Karlsruhe am Rhein  galt als Grenzstadt, eine neue Auseinandersetzung mit Frankreich lag schon vor  1939 in der Luft.  Entlang des Rheins wurde der Westwall mit Bunkern gebaut, auf französischer Seite die Maginotlinie als Defensivlinie. 1939 wurden Frauen und Kinder aus Karlsruhe  evakuiert, da man einen französischen Angriff fürchtete. Mein Vater wurde sofort eingezogen und hat den Frankreichfeldzug als Soldat mitgemacht.  Ein Onkel, der  ursprünglich vom deutsch- französischen  Verständigungsgedanken ausgehend,  unter Ribbentrop im Auswärtigen Amt das Frankreichreferat übernommen hatte, wurde 1940 von Hitler zum  Deutschen Botschafter  in Paris ernannt. Nach Kriegsende war er als Kriegsverbrecher 4 Jahre in Einzelhaft, dann wurde   er von einem französischen Gericht, das aus Widerstandskämpfern bestand, zu   20 Jahren Gefängnis verurteilt. Die Gefängnisstrafe wurde allerdings durch eine  von Adenauer  erwirkte Begnadigung aufgehoben.

Ich wohne nicht mehr  in Karlsruhe, wo ich tatsächlich weniger als die Hälfte meines Lebens verbracht habe, wenn ich die Stadt auch häufig besuche. Um jedoch die Frage nach einem „possible Europe" zu beantworten, muss ich fast ausschließlich von der Zeit dort sprechen. Und von meiner Familie.

Der Zweite Weltkrieg war ein Beben, das die ganze Welt erschütterte und vieles veränderte, auch in der Kunst. Neue Ideen tauchten auf, der Existenzialismus, der aus Frankreich kam. Ich sah in den letzten  Schuljahren die Stücke von  Sartre und las die Bücher von Camus. Ich brauchte Zeit, bis ich die moderne Kunst verstand, die ebenfalls aus Frankreich kam.

Die Losung nach dem Krieg lautete, die Stimmen der Vergangenheit zum Verstummen zu bringen und für die Zukunft  zu arbeiten. Wir Deutschen erlebten eine Zeit  politischer Stabilität und so bekam mein  Vater, der französisch an einem Gymnasium unterrichtete, vom Ministerium  1958 eine Einladung   das französische Schulwesen am Beispiel eines  Internats  im Süden Frankreichs, in Perpignan, nahe der spanischen Grenze, zu studieren. Da meine Mutter aus gesundheitlichen Gründen den Vater nicht begleiten konnte, nahm  mein Vater auf diese Reise mich  mit. Ich war inzwischen verheiratet und hatte eine Tochter, nahm aber die Einladung  gerne an. Längere  Auslandsreisen waren   für viele Deutsche damals aus wirtschaftlichen Gründen nicht möglich. Wir wurden von den Kollegen meins Vaters sehr herzlich empfangen, reihum eingeladen und machten mit ihnen Ausflüge.  Alle vermieden es, von der Vergangenheit zu sprechen.  Niemand wollte  sich in Diskussionen verbeißen und den Graben zwischen Deutschland und Frankreich vertiefen. Wenn wir bei  französischen Familien eingeladen waren, durchzogen Wohlgerüche die Wohnung. Ich  entdeckte, wie viel Zeit in Frankreich am Esstisch verbracht wurde. Wir armen  Nachkriegsdeutschen lernten die Freude des Schlemmens kennen.

Das Gedächtnis wird von Gefühlen bestimmt. Wir erinnern uns eher und lebhafter an Dinge, die uns bewegt haben.  Sprechen wir von der Vergangenheit, so beziehen wir uns auf Extreme- die guten und die schlechten- und blenden riesige Grauzonen  des täglichen Einerleis aus. Immerhin erinnere ich mich  an eine Zeitungsnotiz aus den Achtziger Jahren , die wie ein Schlaglicht  das Deutsch- französische Verhältnis beleuchtete,  und habe sie  hervorgesucht. 

 

Südwestpresse, Freitag  9. Dezember 1983

Auch Deutsche ersteigern  die unverwüstlichen  Betongemäuer der einstigen Maginotlinie.

„Ich weiß noch nicht, was ich mit meinem Bunker anfangen werde. Vorerst einmal gar nichts". Der 24 jährige Stuttgarter hat soeben für umgerechnet etwa 750 DM  einen Bunker aus dem 2. Weltkrieg  auf 100 Quadratmeter Boden in einer Nachbargemeinde von Longwy (Lothringen) ersteigert. „Ich muss ihn mir erst einmal anschauen. Ich habe keine Ahnung, was ich mir da eingehandelt habe. Es war ein Kauf völlig ins Blaue  hinein", fährt er fort. Vielfach war es Neugier und Aussicht auf billiges Land, das die rund 100 Interessierten zur Versteigerung in das Rathaus von Longwy geführt hat. Dort wurden 45 Bunker der ehemaligen Maginotlinie von der staatlichen französischen  Domänenverwaltung zum Verkauf angeboten. Für die Armee waren sie nutzlos geworden. Die Ausgangspreise lagen zwischen 16 und 750 Mark. Für diese Mindestpreise wechselte jedoch kein Bunker den Besitzer.

Den mit 6000 Mark teuersten Bunker blätterten ein lothringischer Bauer für einen geräumigen 33 Quadratmeter großen Bunker auf 800 Quadratmeter Land auf den Tisch des Auktionators. In dem unverwüstlichen Betongemäuer will der Landwirt jetzt ein Futtersilo einrichten. Die günstige Lage des Bunkers hatte bei der Versteigerung  den Preis in die Höhe getrieben...

Die Bunker kamen nicht unter den Hammer, sondern wurden nach der Brenndauer einer Kerzenflamme verkauft. Nach dem ersten Angebot wird ein Docht entzündet, der 20 Sekunden lang brennt.  Folgt in dieser Zeit kein höheres Gebot, gilt der Bunker als verkauft. Bei Versteigerung der öffentlichen Hand ist dieses Verfahren  in  Frankreich Tradition.

Jeder trägt ein Bündel an Erinnerungen mit sich herum. Ich habe den Diskurs über ein „Mögliches Europa" auf meine Weise beantwortet.


Wenn sie mit dem Autor/Autorin des Textes in Kontakt kommen möchten, wenden Sie sich bitte an leserbrief@europa-erleben.net



Agathe Wende
eingereicht von
Agathe Wende
Kategorie
Kriegsende, Flucht, Vertreibung
Datum
28.08.2009


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