Erfahrungsberichte

Boris im Bernstein

Ein fünfhundert Gramm schwerer Bernstein drehte und wendete sich im Watt an der Nordseeküste. Er räkelte sich in der Morgensonne. „Was ist heute für ein Tag?" summte es in seinem Bauch, in dem seit etwa tausend Jahren die Mücke Boris lebt. Eine dicke schwarze Schicht Salz klebte außen am Bernstein. Eine junge Heringsmöwe Lili knabberte genüsslich an ihm, rülpste anschließend ihre Dankbarkeit wie ein „OM" über ihren Lieblingsstein. Dann begann die Heringsmöwe Lili bedächtig ihre Gefieder zu putzen: „Ich habe die Nacht drüben an der Mole verbracht. Hinterm Krankenhaus lagern mittlerweile sogar Stolpersteine vom Festland. Bordsteine stapelten sich neben Randsteinen und ganz neue Tetrapoden ragen in die Nordsee. Vergangene Nacht wurde es bei Niedrigwasser am Deich lebendig und fast mystisch spirituell. Der frisch eingeflogene evangelische Opferstein aus Idar-Oberstein diskutierte mit einem ebenso eingeflogenen katholischen Sandstein aus Steingaden, wer der bessere Stein für die Kirchen und Altäre auf Helgoland wird. 'Das entscheiden doch die Steinmetze', krächzte der Uhu.

Drei Nierensteine und fünf Gallensteine lagen ebenso herum und fühlten sich von einer Steinschleuder beobachtet, die Herrn Hoffmann von Fallersleben im Visier hatte. Wie die Gallen- und Nierensteine nach Helgoland gekommen sind, weiß ich auch nicht. Irgendjemand von den Touristen muss sie am Strand vergessen haben. Vielleicht hoffen sie, in fernen Zeiten als Schmucksteine in einer Hummerbude verkauft zu werden.

Der Fischadler Hubert spendete seine Beute für den Sieger des Glaubensstreites und ließ sie neben den evangelischen Opfertisch fallen. Hubert flog noch einmal majestätisch über die Insel Helgoland. Dann landete er auf der Mole. Hubert plusterte sich auf: 'Schluss mit dem Geplänkel. Normalerweise fragt man bei Shakespeare nach. Doch ich empfehle Albert Einstein. Der Herr ist der klügste von allen Steinen, die ich kenne. Nicht umsonst gilt Herrn Einsteins Haupt in den Städten als beliebter und begehrter Landeplatz für die Vögel. Die Liebespaare knutschen nachts in seinem Schutz und die Hunde waschen ihm seine Füße mit ihrem eigenen Saft! Neulich las ich im süddeutschen Blatt, ein ganz verrückter Liebhaber habe sich und seine Ulmer Braut im Rocksaum von Herrn Einstein verewigt: Die Zeitung zitierte: ...'da friert ein Stein und Bein, da friert Einstein und Bein, da friert ein, Stein und Bein friert ein'. Dabei soll Herr Einstein von der Trägheit der Energie und von Gitterschwingungen der Atome in Festkörpern geträumt haben".

Die Mücke Boris rümpfte die Nase über das Jahr 2009 auf der deutschen Hochseeinsel. „Als ich noch sehr jung war, fand ich es viel aufregender an den Küsten", erzählte Boris der Heringsmöwe.

 " Die Schweden segelten nach Ostpreußen, um Handel mit Polen und Russen zu treiben. Kaufleute der Hanse aus Italien trafen Kaufleute aus Königsberg und tauschten Holz gegen Eisen und Mehl gegen Heringe. Heute findest du es erwähnenswert, wenn Hunde pinkeln und Liebespaare knutschen. Ein dekadentes und eintöniges Kulturleben!"

Boris polterte in seiner Bernsteinbehausung.

"Mein Bernstein, ich will zurück in die Ostsee und zwar mit der nächsten Springflut. Wecke mich erst wieder, wenn die Strandköter als Seehunde im Meer schwimmen, wenn die Buddenbrooks am Zauberberg Schlitten fahren und die Danziger auf dem Kopfsteinpflaster Salzheringe grillen. Und sollte Herr Kant in Königsberg doch noch eine Frau gefunden haben, möchte ich als Medaillon an ihrem Hals hängen".

Der Fischadler Hubert konnte das Gezeter nicht ertragen und flog heim nach Mecklenburg- Vorpommern.

Die Heringsmöwe Lili blieb versöhnlich.

 „Träume du nur und schwärme von den alten Tagen. Alles hat seine Zeit, steht in der Bibel! Das Leben spielt sich immer im Heute ab. Heute bedeutet für die Menschen unserer Zeit, dass sie in internationalen Zeitungen lesen, wo Seuchen bekämpfen werden. Sie tun es uns Vögeln gleich und fliegen von Europa nach Afrika. Sie umschiffen die Kontinente in friedlicher Absicht. Sie kaufen auf den Märkten und Läden Bananen und Orangen aus Israel, verkosten Wein aus Spanien und genießen in eleganter Abendgarderobe aus französischen Boutiquen den Parsifal in der Mailänder Scala. Das Heute bedeutet aber auch, dass fast alle Menschen in Europa lesen und schreiben können, wissenschaftlich arbeiten dürfen, z.B. in der Antarktis forschen, am Nordpol das Klima und uns Vögel beobachten oder Sonden zum Mars senden. Die Technik ermöglicht es, von der belgische Küste mit dem Auto durch den Kanal nach England zu fahren. Russische Flugzeuge bekommen Flug - und Landeerlaubnis auf der Nachbarinsel Irland.

 Einiges bleibt noch ungereimt. Flüchtlinge aus Afrika bitten in Europa um Asyl und Brot. Deutschlehrer wandern nach Polen aus, weil sie an deutschen Schulen keine Perspektive sehen. Es gibt zu wenige Spielplätze für Kinder auf dem Kontinent, dafür werden vom Aussterben bedrohte Tiere in Zoologischen Gärten gepflegt. Eigentlich klappt die Globalisierung bei den Menschen ganz gut. Erst neulich flatterte mir eine Speisekarte aus Danzig vor die Zehen. Im Restaurant „Lachs" verwöhnt der schwedische Koch seine dänischen Gäste im Hauptgang mit einem Lachssteak aus Norwegen und rundet das Menu mit italienischem Vanilleeis, norddeutscher roter Grütze und einem Schuss Limoncello ab. Das würde Herrn Einstein auch gefallen, denn der hat an diesem Fortschritt mitgearbeitet. Ob Immanuel Kant beim Philosophieren über Europa heute Zeit für eine Brautschau fände, ist ungewiss.

Bitte, Boris, bleibe bei mir, ich habe mich so an dich gewöhnt"!


Wenn sie mit dem Autor/Autorin des Textes in Kontakt kommen möchten, wenden Sie sich bitte an leserbrief@europa-erleben.net



eingereicht von
Ellen-Ingrid Kahrmann
Kategorie
Meine Heimat(en)
Datum
28.08.2009


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