Erfahrungsberichte

Die Geschmäcker und die Gerüche der Nachkriegszeit

Die Geschmäcker meiner Kindheit sind stark verbunden mit den Gerüchen. Als erstes erinnere ich mich an gelben, dickflüssigen Lebertran. Für mich roch und schmeckte er gut, meine Geschwister haben sich geschüttelt, sie fanden ihn ekelhaft.

Ab meinem fünften Lebensjahr war ich im Herbst mit meiner Mutter (zusammen mit vielen anderen Familien) im Wald und suchten unter Anderem "Bucheckern", die Frucht der Buche. Nachdem bei uns zu Hause überwiegend Laubwald wuchs, gab es viele, viele Bucheckern. Einige durften wir beim Sammeln gleich öffnen und essen, sie schmeckten herrlich nussig. Die restlichen Eckern kamen in einen Korb und wurden zur Mühle gebracht. Dort wurden sie gemahlen und meine Mutter erhielt dafür, in den mitgebrachten Flaschen, Öl. Im Garten wuchsen Kartoffeln, diese wurden gerieben, etwas Zwiebeln dazu Salz und wenig Mehl. Dieser Teig wurde im Öl gebacken und es waren die besten Kartoffelpuffer, die es je gab. Dazu gab es Apfelmus oder Heidelbeeren.

Die Beeren gab es auch im Wald und wir sammelten sie in kleinen Milchkannen oder Blecheimern. Für den Winter wurden welche eingeweckt und im kühlen Keller aufbewahrt. In der Nachkriegszeit gab es Fahrten auf der Ladefläche eines kleinen LKWs in die Lüneburger Heide. Dort gab es Unmengen von Heidelbeeren und meine Mutter und meine Schwester (damals ca. 18 Jahre) nahmen ab und zu an solchen Fahrten teil, die Morgens um 4 bzw. 5 Uhr starteten. Sie brachten dann mehrere Körbe voll mit.

Im Sommer gab es in unserem Garten Erd-, Johannis-, Him- und Stachelbeeren. Außer der "Roten Grütze" (Erd-, rote Johannis- und Himbeeren, wenn vorhanden auch Sauerkirschen zusammen gekocht) gab es noch Gelees und Marmeladen und ganz wichtig: Himbeersaft! Die Himbeeren kamen in einen Leinenbeutel und wurden über Nacht mit einem Kochlöffel quer über einen Topf zum Abtropfen gehängt. Das ganze Haus duftete nach Himbeeren. Der Himbeersaft wurde im Winter über den Griesbrei oder Milchreis (soweit vorhanden) gegossen. Der restliche Saft durfte ab April/Mai mit Wasser verdünnt, getrunken werden.

In der Schule erhielten wir ab 1948 zwei Mal pro Woche Schulspeisung von den Engländer, die in unserem Ort stationiert waren. Jede Klasse (48 - 55 Schüler pro Jahrgang in einer Klasse!) bekam einen riesigen Topf. Es gab so etwas Ähnliches wie Porridge, war bei uns nicht beliebt, aber machte satt. Der Hit war eine sogenannten "Schokoladen Suppe", die uns wunderbar schmeckte. Die Behälter für das Essen und den Löffel brachte jedes Kind von zu Hause mit.

1949 kam mein Vater aus der Gefangenschaft nach Hause. Er kannte viele Pilze im Wald und ich durfte mit ihm suchen. Die Pfifferlinge, Stockschwämmchen und Steinpilze waren eine große Bereicherung für unseren Speisezettel, sie wurden gebraten und mit viel, viel Petersilie gegessen.

Ein ganz besonderer Geruch war für mich frisches Brot. Immer wenn ich beim Bäcker Brot holen musste, kam ich in Versuchung in das Brot sofort reinzubeißen. Das war aber verboten! Das Brot lag dann auch mindestens zwei Tage im Brotkasten, denn "frisches Brot" sei ungesund.

Nachdem bei uns im Haus Flüchtlinge einquartiert waren, roch es ganz, ganz oft nach Weißkohl und Sauerkraut. Wenn wir die Haustür öffneten, kannten wir den Speiseplan von allen Familien (im 2-Familienhaus 4 Familien und eine alleinstehende Mutter mit Kind). Bei uns gab es Steckrübeneintopf mit Schweineohren und Kartoffeln, später dann mit geräuchertem Bauchfleisch. Im Winter roch es bei uns Einheimischen streng nach Grünkohl, nach dem ersten Frost und wenn irgendwo im Verwandten- oder Bekanntenkreis ein Schwein geschlachtet worden war, wegen der fetthaltigen Brühe, die zum Grünkohlkochen gehört.

Andere Gerüche waren die Gerüche von Seife und Schmierseife. Meine Patentante wohnte in einer größeren Stadt und war mit ihrem Mann Hausmeisterin in einer Villa. Der Besitzer der Villa handelte mit Seifen und Waschmitteln. Als Tausch gegen Kartoffeln, Obst und Gemüse erhielten wir von der Tante wunderbar duftende Seifen. Manchmal sogar "Vorkriegsware", die nach Maiglöckchen oder Flieder rochen. Diese Seifen lagen dann monatelang im Wäscheschrank, zwischen der Unterwäsche, bevor wir sie benutzen durften.

Der Geruch von Schmierseife lag alle drei Wochen im ganzen Haus. Am Sonntagabend wurde in der Waschküche das Feuer unter dem großen Waschkessel angezündet, Wasser in Eimern ca. 100 bis 150 Liter in den Kessel gefüllt, Schmierseife im warmen Wasser aufgelöst und die erste Wäsche (weiße) darin gekocht. Das Feuer durfte nicht ausgehen. Am Montagmorgen wurde die Wäsche herausgenommen (alles war voller Dampf) gespült und die nächste kam hinein, die farbige, die nicht gekocht werden durfte. Wollsachen: Pullover, Strickjacken und Strümpfe wurden extra von Hand gewaschen. Wenn die Wäsche draußen im Garten trocknen konnte, duftete sie frisch. Im Winter wurde alles zwei Stockwerke hoch auf die Bühne geschleppt, da war die Wäsche oft steif gefroren und brauchte lange zum Trocknen.

Es gab noch einen Geruch, den ich nicht vergessen werde. Mein Schwager (meine Schwester heiratete 1949) stellte selber Wein aus Hagebutten (die wir am Waldrand gesucht hatten) her. Der Glasbehälter mit vielen verschlungenen Röhren stand mit den Früchten in einer kleinen Abstellkammer und roch etwas merkwürdig, wenn er anfing, zu "gluckern". Den fertigen Wein durfte ich leider nie probieren, weil ich zu jung war.


Wenn sie mit dem Autor/Autorin des Textes in Kontakt kommen möchten, wenden Sie sich bitte an leserbrief@europa-erleben.net



eingereicht von
Rosemarie Müller
Kategorie
Kriegsende, Flucht, Vertreibung
Datum
09.11.2009


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