Erfahrungsberichte

Mamma Fahr

Sapri, die kleine Stadt am Meer an der Grenze zu Kalabrien, ist Schnellzugsstation auf der Linie zwischen Neapel und Reggio Calabria. 1993 stand ich dort auf dem Bahnhof. Es gab nur zwei Bahnsteige mit den Tafeln: „Züge nach Norden“ und „Züge nach Süden“. Mir kamen meine italienischen Bekannten aus Gottmadingen in den Sinn. Hier stiegen sie als junge Menschen Anfang zwanzig in den Zug, der sie nach Deutschland brachte. Ich begann ein bisschen nachzufühlen, was dies für sie bedeutete. Ich begann zu erahnen, welche Lebensleistung sie erbracht haben. 

Sie kamen aus Caselle in Pittari, ca. 15 Km von Sapri entfernt. Sie konnten kein Deutsch, sie wussten nicht, wie die Arbeit in einer Fabrik aussieht. Sie wussten nicht, wie sie in Gottmadingen leben werden. Der einzige Halt, der einzige Wegweiser war ein Verwandter oder guter Bekannter, der schon in Deutschland arbeitete. Sie verzichteten auf ihre Familien und auf ihr vertrautes Umfeld, um nur an Weihnachten und im August für ein paar Tage wieder zurückzukehren.

Aber zu Hause konnten sie nicht bleiben. Anfang der 50iger Jahre erklärte der Bürgermeister von Caselle, dass die Gemeinde auf die Einziehung von Steuern verzichte, damit die Arbeitslosigkeit und die Not der Bewohner wenigstens ein bisschen gelindert werde. (*)

In Gottmadingen gab es die Landmaschinenfabrik FAHR. Sie war 1870 von dem Mechanikermeister Fahr gegründet worden. Bereits vor dem zweiten Weltkrieg war sie ein großes Industrie-Unternehmen, das seine Bindemäher in ganz Deutschland verkaufte. Nach 1945 wurde sie rasch zu einer Weltfirma. Über  4000 Menschen waren in Gottmadingen und Stockach beschäftigt. Die Gottmadinger sprachen von „üserer Fabrik“, was bei den Hegauern aus den anderen Orten ein spöttisches Lächeln hervorrief.  In Caselle bezeichneten die Leute die Fabrik als Mamma Fahr. Aber dies wurde erst vor wenigen Jahren allgemein bekannt. 

1957 kamen die ersten jungen Männer aus Caselle nach Gottmadingen. Auch aus Bari war eine Gruppe da.  Vermutlich haben sie an der Gleichgültigkeit der hiesigen Bevölkerung gelitten. Die ältesten Kammern und Baracken wurden an sie zum Schlafen vermietet. Aber die Arbeitskräfte wurden dringend gebraucht. Nach einigen Jahren wurden auf Initiative von der Firma Fahr und der Gemeinde neue Wohnblöcke gebaut.

Die jungen Männer holten sich ihre Verlobten aus Caselle nach und heirateten.  Auch zwischen Italienern und Deutschen kamen die ersten Ehen zustande.

Von 1962 bis 1972 gab es die erfolgreiche Fußballmannschaft „Julia Caselle“ der Gottmadinger Italiener. Danach gehörten die italienischen Spieler zu den starken Kräften in der ersten Mannschaft des FC Gottmadingen.

Mit den Jahren kamen Kinder auf die Welt und eine neue Generation wuchs heran. Die italienischen Frauen mussten meistens einer Arbeit nachgehen und gleichzeitig  die Familie versorgen.  Manches Kind wurde über Tag zu Pflegeeltern gegeben. Dabei entstanden neue herzliche Beziehungen in der Bevölkerung.

Die Schulen, die katholische Kirchengemeinde und auch der Italienisch-Unterricht, organisiert durch das italienische Konsulat, haben den italienischen Bürgern eine notwendige und gute Geborgenheit geboten. 

Einige Lehrer besuchten 1988 Caselle. Daraus ist ein Deutsch-Italienischer Freundeskreis e.V entstanden. Ein paar Jahre danach vereinbarten die beiden Gemeinden eine offizielle Partnerschaft. Zur Zeit arbeiten die Gottmadinger Realschule und eine Schule in Caselle zusammen und die Schüler machen gemeinsame Projekte. Alle zwei Jahre werden regelmäßig Besuchsreisen nach Caselle und umgekehrt angeboten. Nächstes Jahr wird wahrscheinlich eine Theatergruppe aus Caselle in Gottmadingen eine Aufführung machen.


Mit den wirtschaftlichen Strukturveränderungen Anfang der neunziger Jahre sind viele italienische Arbeiter wieder nach Italien zurückgegangen. Die Firma Fahr gibt es inzwischen auch nicht mehr.

Ein beträchtlicher Teil der ersten Generation ist in Gottmadingen und Umgebung geblieben. Fünf Jahrzehnte an einem Ort, die Kinder und die Enkel binden. So haben sie ganz selbstverständlich zwei Heimatorte, Gottmadingen und Caselle.


Der Bürgermeister von Caselle Dr. Giampiero Nuzzo schreibt in seinem Grußwort zur Broschüre „Mamma Fahr“,  dass die Menschen aus Caselle wie der ganze italienische Süden die Geißel der Emigration erlitten haben. Anfang 1900 wanderten die Menschen nach Südamerika aus, Anfang der 60iger Jahre gingen sie nach Deutschland und in andere europäische Länder und in den letzten zwanzig Jahren zog Norditalien viele Menschen an.

Gleichzeitig ist dadurch in Gottmadingen wie an vielen anderen Orten ein Stück Europa entstanden, worauf der Gottmadinger Bürgermeister Dr. Michael Klinger hinweist. 378 Bürger italienischer Herkunft sind fest im Gottmadinger Gemeindeleben integriert. Und die alteingesessenen Gottmadinger haber viel aus Italien übernommen, ohne dass es ihnen bewusst ist. Ciao ist inzwischen ein alemannischer Gruß geworden.

Diejenigen, die jenes berühmte Buch gelesen haben, können heute feststellen:
Christus ist nicht in Eboli geblieben, er ist inzwischen auch in die Basilicata gegangen. Dank der Anstrengungen der italienischen Nachkriegsregierungen, dank der starken Unterstützung durch die Europäische Union. Aber ebenso durch die Lebensleistung und die Solidarität der einzelnen Menschen, im besonderen der Emigranten.

 * Quelle:  Broschüre  „Mamma Fahr“ von Domenico Finamore

http://www.fahr-schlepper-freunde.de/
http://www.dif-gottmadingen.de/  


Wenn sie mit dem Autor/Autorin des Textes in Kontakt kommen möchten, wenden Sie sich bitte an leserbrief@europa-erleben.net



eingereicht von
Roland Huber
Kategorie
Nach Deutschland gekommen
Datum
26.11.2009


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