Erfahrungsberichte

Im neuen Haus

„Das ist doch nicht euer Ernst?“, fragten viele unserer Nachbarn, als sie von unseren Umzugsplänen erfuhren: von Feudenheim wollten wir in die Neckarstadt-West ziehen. Mehr als ein Vierteljahrhundert hatte ich mit meinem Mann Wolfgang und unseren drei Kindern in einem Einfamilienhaus in Feudenheim gewohnt, einem ruhigen Vorort Mannheims mit eindeutiger Mittelschichtstruktur- viele Ärzte, Lehrer, Anwälte, Psychologen. Die Vorgärten waren gepflegt, es gab viel Grünes (auch politisch gesehen), der allgemeine Umgangston war höflich, oft auch freundlich Wir fühlten uns wohl dort.

Wegen Eigenbedarfs der Besitzer hatten wir in diesem Jahr die Kündigung erhalten. Finanzielle Belastungen – zwei Kinder studieren noch – und deutlich reduzierte Einkommen bei mir, die ich nun in Rente bin, wie auch bei meinem Mann führten dazu, dass wir uns nach einer preiswerteren Mietwohnung in einem anderen Stadtteil umsahen. Und so kam es, dass wir nun seit sechs Wochen in der Neckarstadt-West wohnen. Es handelt sich um einen zentrumsnahen Stadtteil mit mehrstöckigen Mietshäusern, die vor etwa hundert Jahren gebaut wurden, und viele der Bewohner haben einen Migrationshintergrund.

Der Umzug in unsere neue 3 ½ Zimmer-Wohnung im 3. OG wurde von einer Umzugsfirma vorgenommen, und zwar über einen Außenaufzug, da es im Haus keinen Lift gibt. Das führte zu einem zeitweiligen Auflauf durch neugierige Gaffer auf der Straße und zu einer ersten Bekanntschaft mit Issa und Amir, 11 und 8 Jahre alt, die im Erdgeschoss wohnen und fasziniert sahen, dass der Mann, der unten das Fließband belud, sich zur Mittagspause selber in einer Kiste nach oben befördern ließ. Sie riefen nach ihrer Mutter, um ihr das zu zeigen, und so lernte ich Anna kennen. Sie stammt aus Bosnien, ihr Mann kommt aus dem Libanon. Anna ist kräftig gebaut und hat ein ansteckendes Lachen. Sie scheint der gute Geist des Hauses zu sein (einen Hausmeister gibt es nicht) und klärt mich gleich darüber auf, dass man sich in jedem Stockwerk mit dem Putzen absprechen müsse. „Herr Fischer“ - er war letztes Jahr in die kleine Erdgeschosswohnung gezogen - „wollte erst nicht putzen. Aber ich habe ihm gezeigt, wie's geht. Jetzt gibt es keine Probleme mehr“, grinst sie. Sie will mich gleich mit ihrer Nachbarin Jenny bekannt machen. Jenny stellt sich als kleine, weißhaarige Dame Mitte siebzig heraus, eine Rumäniendeutsche, die ich trotz ihrer freundlichen Einladung in die Wohnung auf ein Tässchen Kaffee doch lieber erst mal Frau Bamberger nenne.

Dann half ich meinem Mann, Bücherkisten aus seinem Auto zu entladen. Ich hatte gerade von ihm einen Karton übernommen und schickte mich an, diesen die restlichen zwei Stockwerke nach oben zu schleppen,als mir eine zierliche dunkelhaarige Frau. entgegenkam.Ich setzte die Kiste ab und stellte mich als neue Nachbarin vor, wobei ich überlegte, ob ich ihr meinen Doppelnamen zumuten könne oder mich auf den Familiennamen 'Westerhaus' beschränken solle. Aber diese Überlegungen wären nicht nötig gewesen.“Kristina, das ist zu viel für dich. Du machst eine Treppe und ich dann die zweite!“, bestimmte sie resolut.und ergriff trotz meiner Proteste gleich die Bücherkiste. Das war meine erste Begegnung mit der 47jährigen Sofia aus Belgrad. Vor 22 Jahren war sie mit ihrem Mann in dieses Haus gezogen. Inzwischen hat sie sich von ihm getrennt, aber ihr erwachsener Sohn, liebevoll 'Bobo' genannt, wohnt in der Wohnung unter ihr und wird offensichtlich noch mitversorgt. Neben ihm wohnt 'Onkel Vukotic', ein Schwager Sofias. Als Bobo ein wenig später auftaucht, wird er kurz instruiert und packt ebenfalls mit an.“Weißt du, wir helfen uns immer hier im Haus. Man muss doch zusammenhalten, um sich wohl zu fühlen“, erklärt Sofia voller Überzeugung.

Als Wolfgang und ich am nächsten Tag mit einer Blume für jeden unsere Vorstellungsrunde machten, lernen wir auch die anderen Bewohner kennen: die beiden Studenten Luca aus Italien und Gilan aus Afrika, Frau Onno,eine rüstige Rentnerin mit einem großen Labradorhund und einem unauffälligen Lebenspartner sowie Frau Katschmarek mit ihrer 15jährigen Tochter Jaqueline. Aber obwohl alle wirklich offen und freundlich sind, verbinde ich das Wohlgefühl im Hause hier vor allem mit Anna und Sofia, der Bosnierin und der Serbin.

Die Zuneigung zu letzterer ist allerdings nicht ungebrochen – Sofia hat eine Vorliebe für kitschige Dekorationen, die mir fast schon weh tut. Die Treppen und Fenstersimse im Flur sind mit knallbunten Keramikfiguren und zahllosen kleinen Pflänzchen zugestellt, neben ihrer Tür reckt ein Froschkönig seine güldene Krone empor, und auf der anderen Seite, direkt neben unserem Wohnungseingang, hat sie sechs große künstliche Blumen befestigt, die einmal pro Woche sorgfältig abgewischt werden. Als ich vorgestern auch noch einen Blumenständer mit einem Dutzend kleiner hässlicher Kakteen neben meiner Wohnungstür entdeckte, beschloss ich, mich zu wehren. Aber zehn Minuten später klingelte es, und Sofia streckte mir strahlend einen Teller mit zwei kleinen, noch warmen Aprikosenküchlein entgegen. „Ich habe ein neues Rezept probiert. Du musst mir sagen, wie sie dir schmecken.“ Was soll ich nun tun?

Vor ein paar Tagen traf ich Anna beim Rauchen im Hof. Entschuldigend sagte sie: „Ich habe schon lange nicht mehr geraucht, aber Issa ist in der Schule so schlecht geworden und soll jetzt auf die Hauptschule, das macht mir viel Stress. Da brauche ich die Zigaretten wieder.“ Ich nehme mir vor, mit Issa einmal in Ruhe zu reden und zu schauen, ob ich ihm helfen kann. Nachdem sie die Kippe sorgsam beseitigt hat, greift Anna zum Besen und kehrt das feuchte Laub des Kastanienbaumes zusammen.“Ich mache jetzt hier Ordnung, damit es im Sommer schön wird.“ Und sie zeigt auf den Stapel Gartenstühle und den Tisch in der Ecke: “Dann können wir alle hier zusammen grillen und haben Spaß.“

Ich freue mich auf den Sommer.


Wenn sie mit dem Autor/Autorin des Textes in Kontakt kommen möchten, wenden Sie sich bitte an leserbrief@europa-erleben.net



eingereicht von
Kristina Ehrhardt-Westerhaus
Kategorie
Miteinander leben - Bei uns und woanders
Datum
09.12.2009


Zurück

Verwandte Artikel