Erfahrungsberichte

Die beiden Alexander

Mit einem lachenden und einem weinenden Auge denke ich an zwei meiner Schüler zurück, beide mit Namen Alexander. Sie sind schöne Beispiele für das Mögliche und Unmögliche im Schulalltag, für Integration oder Nicht-Integration, die nicht nur vom Einsatz der Betreuer abhängen.

Der erste, Alexander T.,  kam vor 10 Jahren in meine damalige 5. Klasse unserer Schule in Mannheim. Er war ein Jahr zuvor aus Perm (Russland) mit seiner Mutter nach Mannheim gekommen. Sie war einem deutschen Ingenieur hierher gefolgt, der sie heiratete und Alexander adoptierte. Nach nur einem Jahr in der Vorbereitungsklasse beherrschte Alexander die deutsche Sprache gut genug, um dem Unterricht zu folgen und in den naturwissenschaftlichen Fächern ausgezeichnete Noten zu bekommen. In Englisch, was ich unterrichtete, waren seine grammatikalischen Kenntnisse hervorragend, aber seine Aussprache schlicht grauenhaft. Auch in Deutsch hatte er noch Probleme.

In den Pausen erzählte er viel von seiner Großmutter, einer Dorfschullehrerin, die oft mit ihm im Wald Pilze und Beeren sammelte, die sie trocknete, um die Familie damit durch den Winter zu bringen. Alexander vermisste seine Großmutter sehr, der er beim Abschied hatte versprechen müssen, einen guten Schulabschluss zu machen. Er interessierte sich wirklich für alles, was man ihm anbot, las in kürzester Zeit die Bücher, die ich ihm auslieh und hörte mit Begeisterung meine Harry-Potter-Hörbücher. Natürlich machte ich auch anderen in der Klasse solche Angebote, z. B. den fünf türkischen Jungen, aber Alexander war der einzige, der immer zugriff.

Alexander besaß ein gutmütiges Naturell, sein rundliches Gesicht und sein gedrungener Körperbau hatten für viele etwas Bärenhaftes. Aber wie die Bären durfte man auch Alexander nicht unterschätzen: einmal wurde ich von Schülern in der Pause geholt, weil er sich mit allen Türken in der Klasse auf einmal prügelte. Wie sich herausstellte, waren sie über die Russen hergezogen, und das hatte Alexander nicht auf sich sitzen lassen können. Das war aber der einzige „Ausraster“, an den ich mich erinnere. In der Klasse, deren Jungenteil von zwei Sportassen dominiert wurde, blieb Alexander ein Außenseiter, der aber mit stoischer Ruhe seinen Weg machte, sich sprachlich sehr verbesserte und am Ende der 7. Klasse eine eindeutige Gymnasialzuweisung erhielt.

Im Laufe der nächsten Jahre verlor ich ihn zunächst, wie viele andere in einer Schule mit 1.500 Schülern, etwas aus dem Blickfeld. Später hörte ich, dass seine Eltern sich getrennt hatten – er befand sich in einer Krise, was ein ziemlich verwahrlostes Äußeres und sinkende Leistungen dokumentierten. Aber in der Oberstufe sah ich ihn mit einer wilden Haarmatte bei allen unseren Schultheater- und musikaufführungen an der Technik sitzen: Alexander hatte seinen Platz gefunden.

Als ich an meinem letzten Schultag vor der Pensionierung über den Schulhof ging, kam mir Alexander, der in diesem Jahr sein Abitur gemacht hatte, entgegen. Er wollte im Sekretariat noch einige Unterlagen abholen. Seine Haarmatte war einem leidlich guten Haarschnitt gewichen, und strahlend präsentierte er mir sein Abschlusszeugnis. Er hatte einen Ausbildungsplatz bei SAS bekommen (seine Wunschstelle) und bedankte sich bei mir: Ohne meine anfängliche Hilfe hätte er das alles nicht erreicht. Das stimmte natürlich so nicht, das sagte ich ihm auch. Trotzdem: Dieser Satz zum Abschluss meines Schuldienstes war mir wichtiger als die nachfolgenden Lobreden des
Schulleiters.

Der zweite Alexander, Alexander J., kam vor 3 Jahren in unsere Klasse. Er stammte aus einem kleinen polnischen Dorf weitab jeder Großstadt, und auch er vermisste die Natur und das Dorfleben und war durch den Riesenapparat unserer Schule sehr irritiert. Aber dennoch zeigte er überdurchschnittliche Leistungen, vor allem im sprachlichen Bereich. Und in der ersten Deutscharbeit, einer Bildergeschichte, schrieb er den besten Aufsatz der ganzen Klasse, ein unglaubliches Ergebnis für ein Kind, das erst seit einem guten Jahr die deutsche Schule besuchte. Alexander verfügte über einen deutlich größeren und vor allem ausgewählteren Wortschatz als das Gros der Klasse, und bei der Erklärung von Fremdwörtern war er unschlagbar. Er hatte die deutsche Sprache nicht wie die meisten Migrantenkinder auf der Straße gelernt, sondern durch die Lektüre von Büchern, vor allem Fachbüchern, erworben.

Damit enden allerdings die Gemeinsamkeiten mit meinem russischen Alexander. Während dieser ausgeglichen war und in sich ruhte, dürstete der polnische Alexander nach Anerkennung durch seine Mitschüler und ließ keine Gelegenheit aus, durch Schwätzen, Witze und andere Störmanöver auf sich aufmerksam zu machen. Seine Mutter hatte sich von dem alkoholkranken und wohl auch gewalttätigen Ehemann getrennt und war ohne ihren Sohn nach Deutschland geflüchtet. Die Erziehung des Jungen übernahm die Großmutter, eine sehr dominante Person und Zeugin Jehovas. Die Mutter kämpfte von Mannheim aus um das Sorgerecht des Jungen, das sie auch erhielt. Aus uns unbekannten Gründen trat sie gleichzeitig mit der Ankunft ihres Sohnes zum Islam über. Die Situation wurde dadurch erschwert, dass Alexander die Ferien abwechselnd bei Vater und Großmutter in Polen verbrachte und danach – nach Aussage der Mutter – immer völlig konfus wieder kam. Und so verhielt er sich auch im Unterricht: er war sehr unkonzentriert und immer bereit, auf irgendwelche Störungen von außen zu reagieren, sein Unterrichtsmaterial ebenso wie die Hausaufgaben waren nie vollständig, kurz, er zeigte alle Anzeichen einer schweren ADS-Störung. Darüber hinaus vergriff er sich häufiger an den Sachen seiner Mitschüler und versuchte, sich durch Lügen und Beschuldigung anderer aus der Affäre zu ziehen. In Gesprächen mit mir und unserer Sozialpädagogin war er sehr verschlossen, und bei letzterer erschien er bald gar nicht mehr. Seine Mutter wünsche nicht, dass er über seine Familie ausgefragt werde, erklärte er uns.

Als wir dann noch feststellten, dass Alexander nicht nur Seiten seiner Hefte ableckte und Fetzen aus Heften und Büchern heraus riss und sie unter den teils faszinierten, teils angeekelten Blicken der Mitschüler weich kaute und hinunterschluckte, war klar, dass Alexander professionelle Hilfe benötigte. Wir Lehrer wie auch die Sozialpädagogin bestanden auf einer schnellstmöglichen psychologischen Behandlung. Die Mutter zögerte, gab aber schließlich dem Drängen nach und erschien mit Alexander zu dem von uns organisierten Termin. Unsere Besorgnis über sein auffälliges Verhalten konnte oder wollte sie nicht teilen, sondern glaubte, durch Strenge und Verbote Alexander zu dem ,was ihr wichtig erschien, zu bringen: schulische Erfolge und eine gymnasiale Zuweisung. Eine Zeit lang schien ihr Konzept zu funktionieren, aber nach einem Vierteljahr war Alexander wieder auffällig geworden: man ertappte ihn, wie er den Spind eines Mitschülers zu öffnen versuchte. Das brachte für den Orientierungsstufenleiter, der sich schon häufig mit ihm beschäftigen musste, das Fass zum Überlaufen: In einer Blitzaktion wurde Alexander trotz meiner Proteste und der seiner Englischlehrerin der Schule verwiesen und musste die nahe seiner Wohnung gelegene Realschule besuchen, deren Schüler zu einem sehr großen Prozentsatz einen Migrationshintergrund aufweisen; die meisten Familien stammen aus der Türkei. War das Integrationskonzept bei Alexander trotz seiner unleugbar hohen Begabung gescheitert? Wir waren sehr besorgt.

Seitdem ist ein halbes Jahr vergangen, und ich wohne seit kurzem in der Nähe dieser Schule. Als ich vor ein paar Tagen an einem trüben Mittag fröstelnd am Schulhof vorbeiging, erkannte ich Alexanders typische Figur in einer Gruppe Gleichaltriger. Ich begrüßte ihn erfreut und fragte ihn, wie es ihm gehe. Er zuckte nur mit den Schultern, aber seine Mitschüler erklärten mir stolz, dass Alexander zwar im Unterricht nie aufpasse und ständig störe, aber dennoch gerade die beste Vergleichsarbeit in Mathematik geschrieben habe, eine glatte Eins. Dabei war Mathematik nie sein stärkstes Fach gewesen. Mir wurde plötzlich warm. Vielleicht würde auch dieser Alexander seinen Weg machen, wenn auch auf Umwegen.


Wenn sie mit dem Autor/Autorin des Textes in Kontakt kommen möchten, wenden Sie sich bitte an leserbrief@europa-erleben.net



eingereicht von
Kristina Ehrhardt-Westerhaus
Kategorie
Nach Deutschland gekommen
Datum
21.01.2010


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