Erfahrungsberichte

Flucht und Vertreibung

Mariakemend war eine rein deutsche, sehr bedeutende Gemeinde, eine Großgemeinde. Es wurde nur deutsch gesprochen. Ich hatte in den ersten zwei Klassen in der Schule nur deutschen Unterricht. Ab der dritten Klasse wurde ein paar Stunden in der Woche auch ungarisch unterrichtet. Die Umgangssprache war jedoch deutsch.
Da Mariakemend eine so bedeutende Gemeinde war, war auch politisch allerhand los, was der Gemeinde, so kann man heute sagen, in den Jahren 1944 bis 1947 sehr zum Verhängnis wurde.
Im Jahre 1941 fand in Ungarn eine Volkszählung statt, hierbei musste man auch angeben, ob man sich zum Deutschtum oder als Ungar bekennt. Viele Mariakemender bekannten sich damals als Deutsche. Ich kann mich noch gut an diese Volkszählung erinnern, weil überall davon gesprochen wurde und ich nicht verstanden habe, was das bedeutet: "Meine Muttersprache ist deutsch, doch mein Vaterland ist Ungarn." Ich weiß noch, dass ich meine Mutter genervt habe mit meiner Fragerei.
Hatte in Mariakemend bis dahin eine große Einigkeit geherrscht, so kam jetzt ein großer Zwiespalt in die Gemeinde. Es bildeten sich zwei Gruppen: "Volksbund" und "Golut", was der Gemeinde in den folgenden Jahren großes Unheil brachte.

Als dann 1944 der Krieg auch Mariakemend erreichte und die Russen im Anmarsch waren, da hatten natürlich vor allem die Mariakemender Angst, die sich als Deutsche bekannten. Deshalb sind die meisten „Deutschen“ Ende 1944 geflüchtet, natürlich in der Hoffnung, dass sie, wenn die Russen vorbeigezogen sind, wieder heim können. Diejenigen, die geblieben sind, wurden von den anderen verraten. Es war eine unschöne Geschichte, die sich in Mariakemend abgespielt hat und viele der älteren Mariakemender, welche dies hautnah miterlebt haben, haben dies bis heute nicht verwunden. Viele der „Golut-Leute“ haben sich dann magyarisieren lassen, d.h. sie haben einen ungarischen Namen angenommen. Es hat ihnen aber nur am Anfang was genützt, später kamen auch sie an die Reihe und sie wurden auch aus ihren Häusern herausgeschmissen und vertrieben.

Im Sommer 1944 waren deutsche Soldaten in Mariakemend stationiert, sie waren beinahe ein halbes Jahr in der Gemeinde. Die Soldaten haben sich in dieser schönen, deutschen Gemeinde sehr wohl gefühlt. Abends waren sie bei den gastfreundlichen Mariakemendern eingeladen und der gute Wein hat ihnen gemundet. Einige von ihnen besuchen heute noch Mariakemend, so sehr waren sie mit dem Dorf und seinen Bewohnern verbunden.
Auch bei uns im Haus waren jeden Tag deutsche Soldaten zu Gast. Ich kann mich noch an Hans aus Geislingen, Werner aus Dresden und Erwin aus Berlin erinnern. Werner und Erwin waren junge Männer, kaum 18 Jahre alt und sie hatten schrecklich Heimweh. Sie haben sich abends nur bei meiner Mutter aufgehalten und haben ihr von ihren Familien daheim erzählt.
Die Soldaten sagten immer, so lange wir noch da sind, braucht ihr keine Angst zu haben, aber wenn wir uns zurückziehen, dann wird es ernst. Und so kam es auch. Immer wieder hörte man, dass die Leute aus der Bacska schon vor den Russen flüchteten. Man hoffte jedoch, dass die Russen nicht über die Donau können und wir deshalb sicher sind. Doch es kam anders.

Mein Vater, Johann Beck, Jahrgang 1893, war als junger Mann schon im ersten Weltkrieg und ein paar Jahre auch im zweiten. Er wurde 1943 entlassen, weil er 50 Jahre alt war und wurde dann im Herbst 1944 zum Volkssturm wieder eingezogen. Er hat uns immer wieder geschrieben, wir sollen uns vor den Russen in Sicherheit bringen, denn man würde schreckliche Sachen hören, was die Russen hauptsächlich mit den jungen Frauen machen.
Meine Mutter, Augustina Beck geb. Gunderlach, war 45 und meine Schwester Rosa 20 Jahre alt und es ist sicher, dass beide Frauen nach Russland verschleppt worden wären.
Obwohl ich erst 9 Jahre alt war, kann ich mich noch sehr genau an die Stimmung im Dorf erinnern, an die Hektik und Verzweiflung der Menschen. Ich weiß noch genau die Ungewissheit und die Zweifel meiner Mutter, sollen wir bleiben und abwarten was passiert oder sollen wir flüchten. Dann war da noch die Ungewissheit, was würde mit meiner Schwester Evi passieren, die sich in einem ungarischen Haushalt in Pecs (Fünfkirchen) befand. So schnell konnte man sie nicht verständigen. Doch in der Stadt war sie nicht in so großer Gefahr, wie wir auf den deutschen Dörfern.
Meine Mutter hat sich sehr spät zur Flucht entschlossen. Schnell wurde dann alles, was wir mitnehmen konnten in Säcke und Bündeln verpackt. Als Bündel dienten uns Leintücher, die mit allen vier Zipfeln zusammengebunden wurden. Meine Mutter hat Federbetten, Bettwäsche, Handtücher und Sachen zum Anziehen eingepackt. Das Geschirr wurde in Eimern und in einem Weidling (Schüssel) verstaut. Da uns gesagt wurde, wir müssten uns nur irgendwo im Wald verstecken, bis die Russen durchgezogen sind, dann könnten wir wieder heim, haben wir auch Lebensmittel für längere Zeit mitgenommen. Und da wir schon geschlachtet hatten, konnten wir auch Rauchfleisch, Würste und einen Topf Schweineschmalz mitnehmen. Das restliche Schweineschmalz hat meine Mutter in einem Topf im Garten neben der Scheune eingegraben. Ich würde die Stelle heute noch finden.
Und was uns ganz wichtig erschien, war unser sperriger Radioapparat. Wie wir den unbeschadet bis nach Altheim gebracht haben, das ist mir heute noch ein Rätsel. Das Gerät war ganz bestimmt nicht lebensnotwendig. Doch wenn man bedenkt, dass wir erst seit ca. einem Jahr elektrischen Strom im Haus hatten, so kann man vielleicht die Wichtigkeit dieses Gerätes erahnen. Das war unser ganzer Stolz und ein Zeugnis des Fortschritts oder "Wohlstands", wie man es auch nennen mag. Zu mir sagte meine Mutter: "Kind, du kannst mitnehmen, was du willst, du musst es jedoch selber tragen." Und da ich sehr gerne in die Schule gegangen bin, so war mein Schulranzen für mich das Wichtigste. Auch meine Puppe und Fotos habe ich mitgenommen.   

Es war der 18. November 1944. Diesen Tage werde ich nie vergessen.  Man hörte, dass die Russen schon ganz nahe sind und dass in Deutschbol (Boly) ein Zug bereitsteht zur Flucht. Jeder musste selber sehen wie er nach Boly kommt, ca. 15 km von Mariakemend entfernt. Eine unglaubliche Hektik ist im Dorf ausgebrochen. Pferdewagen wurden beladen, viele haben sich zu Fuß nach Boly aufgemacht. Meine Mutter ist im Dorf herumgesprungen und hat nach einer Fahrgelegenheit gesucht. Meine Schwester Rosa und Anna Reil hatten sich schon zu Fuß auf den Weg gemacht, voll beladen, was sie eben tragen konnten und doppelt und dreifach alles übereinander angezogen. Rosa hatte über ihre Sachen noch die schwere Winterjacke vom Vater und seine Schuhe an. Die Schuhe waren ihr drei Nummern zu groß und so musste sie die ganze Strecke bis nach Boly gehen.
Als sich meine Mutter zur Flucht entschlossen hatte, sprang sie schnell zu ihrer Schwester Nani in die „Evereck“ (Straße) um ihr dies mitzuteilen und sie zu bitten, dass sie nach unseren Tieren und unserem Haus schaut, wenn wir weg sind. So hat sie dann in der "Evereck" auch einen Mann gefunden, der bereit war, uns zum Bahnhof zu fahren. Schnell wurden die bereitgestellten Sachen auf den Wagen geladen. Meine Mutter und ich saßen auf den Bündeln, dick angezogen, drei- und vierfach alles übereinander.
Ganz besonders ist mir in Erinnerung geblieben, wie wir mit dem Einspänner aus dem "Hechwald", aus Mariakemend hinausgefahren sind. Ich weiß noch das Gefühl, das mich beim Verlassen unseres Heimatdorfes beschlichen hat. Doch das Schlimmste war für mich, dass unser kleine Hund, der Daxi, lange Zeit dem Wagen nachgesprungen ist. Immer wieder habe ich zu ihm gesagt: "Daxi, geh doch heim, wir kommen doch bald wieder." Doch er hat sich nicht abbringen lassen. Heulend ist er dem Wagen gefolgt. Plötzlich blieb er stehen, hat seinen Kopf zur Seite gelegt und hat uns so traurig nachgeschaut. Diesen Anblick werde ich wohl nie vergessen. Er hat sich tief in mein Gedächtnis eingebrannt. Der kleine Hund hat es gespürt, dass dies ein anderes Fortgehen ist, denn sonst sind wir doch auch jeden Tag fortgegangen und er ist allein geblieben.
Meine Tante Nani hat den Daxi dann zu sich geholt, doch er hat nicht mehr gefressen und ist immer wieder zu unserem Haus gegangen und kurze Zeit später hat sie ihn tot vor unserer Haustüre gefunden. Der arme Daxi ist vor lauter Heimweh gestorben.
 
In Erinnerung ist mir auch geblieben, dass der Kutscher nicht mehr ganz nüchtern war. Zwei Mal hat er auf dem Weg zum Bahnhof angehalten und ist in ein Gasthaus gegangen zum Trinken. Meine Mutter und ich hatten große Angst. Das Pferd hat gescheut und war sehr unruhig. Andere Fuhrwerke haben uns überholt und wir fürchteten, zu spät zum Bahnhof zu kommen und meine Schwester Rosa war doch schon fort. Wir haben jedoch den ersten Transport noch erreicht und so sind wir am 18. November 1944 mit vielen anderen Mariakemendern und auch vielen Flücht-lingen aus anderen Gemeinden geflüchtet. Es waren hauptsächlich Frauen mit Kindern.
Unser Transport war acht Tage unterwegs. Immer wieder wurde auf den Zug geschossen, wir mussten uns in den Graben legen und zitterten vor Angst. Einmal mussten wir lange Zeit warten bis eine neue Lokomotive herbeigeschafft war. Der Zug hat immer wieder angehalten, niemand wusste, wo wir landen würden. In Mariakemend hatten wir bisher vom Kriegsgeschehen nicht viel mitbekommen. Da gab es keinen Fliegeralarm. Man kann sich vorstellen, wieviel Angst die Frauen mit ihren Kindern hatten. Unterwegs hat ein Junge, ein Schulkamerad von mir, starke Bauchschmerzen bekommen. Bei einem kurzen Halt, irgendwo, wurde er in ein Krankenhaus gebracht. Die Mutter ist einfach mit uns mit dem Zug weitergefahren. Das war für mich unvorstellbar, wie die Mutter das machen konnte. Den findet die nie wieder, dachte ich. Doch ein paar Wochen später war der Josi wieder bei uns im Lager in St. Michael, ohne Blinddarm.
 
Der Zug fuhr nach Österreich, dort wollte uns natürlich auch keiner haben. Wir wurden hin- und hergeschoben. Niemand wusste wohin mit den Flüchtlingen. In St. Michael, in der Steiermark, blieb der Transport stehen und blieb so lange, bis sich die Gemeinde St. Michael bereit erklärt hatte, die Schule auszuräumen und ein paar hundert Flüchtlinge aufzunehmen. Geschlafen wurde monatelang auf dem Fußboden, einer neben dem anderen. Es wurde für uns gekocht. Wir mussten nicht hungern. Es war trotzdem eine schwere Zeit. Andauernd war Fliegeralarm, oft mehrmals in der Nacht. Manchmal hat man sich gar nicht mehr ausgezogen und hat sich mit den Kleidern zum Schlafen gelegt, denn es musste ja schnell gehen, wenn die Sirenen geheult haben. Alle mussten in den Keller runter, dort war ein großes Gedränge. Als einmal in der Nähe einige Bomben fielen, wollten alle zuerst aus dem Keller nach oben. Es gab ein Gedränge, dass man Angst haben musste, erdrückt zu werden. Dieser Schock ist mir bis heute geblieben, wenn ich in einem engen Raum bin, fällt mir sofort der Keller von St. Michael ein.

Wir sind also am 18. November 1944 geflüchtet und neun Tage später kamen dann die Russen nach Mariakemend. Am ersten Weihnachtstag 1944 ging der Gemeindediener durch das Dorf und forderte alle Personen zwischen 15 und 35 Jahren auf, sich bereitzuhalten, sich warm anzuziehen, denn wenn die Trommel geht, müssten sie zum Schützengraben ausheben gehen. Es würde längere Zeit dauern und sie sollten sich etwas zum Essen mitnehmen. Kurz nach Mitternacht ging dann die Trommel, es mussten sich alle um zwei Uhr morgens beim Gemeindehaus einfinden. Wer zu fliehen versucht, wird erschossen, hieß es. Es muss furchtbar gewesen sein. Mütter wurden von ihren Kindern weggerissen. Sie wussten nicht was mit ihnen und was mit ihren Kindern passiert. Morgens um fünf Uhr wurden sie aus dem Dorf getrieben und es erzählen noch heute einige davon, dass gerade als sie aus dem Dorf gezogen sind, die Morgenglocke angefangen hat zu läuten, so als würde sie zum Abschied läuten.
155 Personen aus Mariakemend wurden damals nach Russland verschleppt und viele von ihnen kamen nie wieder zurück. Ich habe einige ehemalige Schulkameraden, deren Mütter nach Russland verschleppt wurden und nicht alle sind wiedergekommen. Die Verschleppten, welche nach fünf oder sechs Jahren heimgekommen sind, waren krank und sie mussten sich verpflichten, ja sogar schwören, nichts zu erzählen. Ein junges Mädchen kam mit 28 kg in Mariakemend an und ist nach kurzer Zeit gestorben. Ihre Schwester starb schon in Russland.  

Durch unsere Flucht ist meiner Schwester Rosa die Verschleppung nach Russland erspart geblieben. Die Deutschen, die noch in Mariakemend geblieben sind, wurden aus ihren Häusern vertrieben und Tschechen und Ungarn, welche aus Nordungarn geflohen waren, haben sich dort sesshaft gemacht. Die Scheunen und Keller waren alle voll und so konnten sie in Mariakemend leben wie die Maden im Speck. Sie verstanden jedoch nichts von der Landwirtschaft und vom Weinbau. So war nach kurzer Zeit kein Weingarten mehr in Mariakemend, die Rebstöcke hatten sie als Brennholz verwendet. Das einst so schöne, weithin bekannte Dorf Mariakemend verfiel von Jahr zu Jahr. Ich weiß noch, wie meine Mutter geweint hat, als sie erfahren hat, dass man unseren Weingarten rausgerissen und verfeuert hat.
Die Leute, die nach uns gekommen sind und unsere Häuser besetzt hatten, hatten bald nichts mehr zu essen, weil sie nichts angebaut haben und sie sind dann weitergezogen und haben die von ihnen besetzten Häuser verkauft an die jetzigen "neuen" Mariakemender, die jetzt noch im Dorf sind. Die jetzigen Bewohner fühlen sich wohl dort. Es ist jetzt ihre Heimat. Sie haben sich ihr Schicksal auch nicht ausgesucht.  
 
Die Mariakemender, welche mit uns mit dem ersten Transport geflüchtet waren, blieben im Lager in St. Michael von November 1944 bis Kriegsende im Mai 1945. Dann wurde St. Michael von den Russen besetzt und die Flüchtlinge wurden wieder nach Ungarn transportiert. Die Maria-kemender kamen auch wieder heim, doch konnte keiner mehr in sein eigenes Haus einziehen. Sie durften auch kein Wort mehr deutsch sprechen, in der Schule nicht und vor allem auch nicht auf der Straße. Die älteren Leute haben sich schwer getan, denn sie konnten ja nicht ungarisch reden. Es ging ihnen sehr schlecht, doch durch die Flucht sind sie den Internierungen nach Russland entgangen. Am 3. September 1947 begann dann die Vertreibung aller Deutschen aus Maria-kemend, egal ob sie sich bei der Volkszählung 1941 als Deutsche oder als Ungar bekannten. Die Vertriebenen kamen damals alle in die ehemalige DDR.

Ich kann über die Zeit der Vertreibung nichts berichten, denn wir, meine Mutter, meine Schwester und ich, sind im Februar 1945 aus dem Lager in St. Michael ausgezogen. Und das kam so: Die Familie Reil war auch im Lager und der alte Herr Reil war dauernd in der Umgebung unterwegs und eines Tages kam er und sagte, er habe ein Haus in St. Lorenzen gefunden und wenn wir möchten, dann könnten wir mit ihnen gehen. Endlich raus aus dem Lager, obwohl wir nicht wussten, was auf uns wartet. Und so packten wir wieder unsere Sachen und fuhren mit dem Zug nach St. Lorenzen, ebenfalls in der Steiermark. Die Überraschung war jedoch groß, denn es war ein altes, abbruchreifes Haus, das vom Einsturz bedroht war. Die Hühner sprangen im Haus herum und meine Schwester Rosa weigerte sich, in dieses Haus einzuziehen. So standen wir wieder da mit unseren Bündeln und wussten nicht wohin. Wieder ins Lager zurück, auf keinen Fall, denn dann müssen wir uns ja schämen. Wir wurden von allen beneidet, dass wir ausziehen konnten und jetzt kämen wir wieder zurück. Undenkbar.
Wir hatten damals noch Rauchfleisch von daheim dabei und damit hat sich meine Mutter auf den Weg gemacht eine Wohnung für uns zu finden. Beim Kirchenweber bekamen wir für unser Rauchfleisch ein großes Zimmer. Kaum hatten wir uns eingerichtet, kamen auch schon Reil's, denn auch sie wollten in das alte Haus nicht mehr einziehen. So waren wir wieder auf engem Raum zusammen. Einige Zeit später kam auch noch der Bruder von Frau Reil mit seiner Frau und so waren wir acht Personen in einem Zimmer, was natürlich viele Probleme mit sich brachte. Meine Mutter ging dann erneut auf die Suche und so fanden wir bei Ackerl's Unterkunft, wo meine Mutter dafür auf dem Bauernhof mitarbeiten musste. Zu dieser Familie haben wir heute noch Kontakt und wir waren schon öfters im Urlaub dort.
Welches Glück wir hatten, dass wir aus dem Lager in St. Michael ausgezogen sind, das stellte sich erst später heraus. Denn nach Kriegsende war zwischen St. Michael und St. Lorenzen die Besatzungsgrenze. In St. Michael waren die Russen und bei uns in St. Lorenzen waren die Engländer und so sind wir dem Rücktransport nach Ungarn und der späteren Vertreibung entgangen.  

In St. Lorenzen habe ich mich sehr wohl gefühlt. Zur Schule musste ich in's Nachbardorf St. Georgen gehen. Ich war ein ganzes Jahr dort in der Schule, woran ich mich noch sehr gerne erinnere. Ich hatte sehr schnell Freundinnen gefunden und zu meiner Freundin Edith habe ich heute noch engen Kontakt. Die Schule machte mir großen Spaß, da ich beweisen konnte, dass ich auch als "Flüchtling" mit den anderen gut mithalten konnte, obwohl sie mich am Anfang eine Klasse zurückstufen wollten, nur weil ich Flüchtling war.  
Doch an eine unschöne Begebenheit kann ich mich noch gut erinnern. Es war im Religions-unterricht. Der Pfarrer war ein kleiner, korpulenter Mann. Er fragte die Hausaufgaben ab und hatte vor mir schon vier oder fünf Schüler gefragt und keiner hatte ihm eine Antwort gegeben. Da kam er auf mich zu und sagte: "Beck, du weißt die richtige Antwort." Ich weiß heute die Frage nicht mehr, doch ich weiß noch genau, dass ich die Antwort tatsächlich wusste. Ich wollte jedoch nicht als Streberin dastehen, ich wollte sein wie die anderen. Ich wollte dazugehören und so blieb auch ich stumm. Da wurde der Pfarrer wütend und er schrie: "Ich weiß genau, dass du die Antwort weißt, du lässt dich nur von den anderen anstecken!" und er gab mir eine schallende Ohrfeige auf die linke Wange. Das hat weh getan, nicht nur körperlich. Ich fühlte mich sehr ungerecht behandelt, denn die anderen Schüler vor mir hat er doch auch nicht geschlagen, nur mich, weil ich ein Flüchtlingskind bin, dachte ich. Ich bin überzeugt, dass es ihm nachher leid getan hat, denn ein paar Wochen später durfte ich während einer Prozession auf einem roten Samtkissen die Dornenkrone tragen. Das war eine große Ehre und meine Mutter war sehr stolz auf mich. Doch verzeihen konnte ich dem Pfarrer die Ungerechtigkeit nicht, trotz Samtkissen.
 
St. Lorenzen liegt an der Mur und ist heute ein wunderschönes steirisches Dorf und seit einiger Zeit ein bekannter Skiort. In St. Lorenzen ging es uns gut. Wir wurden von der Bevölkerung warmherzig aufgenommen und wir wären zu gerne dort geblieben. Erstens weil es uns gutging und zweitens, weil es nicht so weit von Ungarn entfernt war. Denn man hatte ja immer noch die Hoffnung, irgendwann wieder heim zu gehen. Meine Mutter hat sehr darunter gelitten, dass sie eine Tochter daheim lassen musste.

Anfang Februar 1946 mussten wir jedoch Österreich verlassen, weil alle Deutschen heim ins Reich mussten. Wer dies beschlossen hat, das weiß ich nicht. Wieder wurde ein Transport zusammengestellt und wieder mussten wir unser Bündel packen und ins Ungewisse fahren. In Kapfenberg waren wir einige Zeit in Baracken untergebracht, dann ging es im Viehwaggon weiter nach Ulm. Auf diesem Transport habe ich das erste Mal Hunger gelitten und ich weiß noch, dass ich viel geweint habe. Die Flucht aus Mariakemend war schon schlimm genug und dann musste ich auch noch aus St. Lorenzen fort, wo ich den steirischen Dialekt bereits perfekt beherrschte. Jetzt schon wieder wo anders hin und schon wieder wegen der Sprache ausgelacht werden. Es ist mir sehr schwer gefallen. Beinahe schwerer als die Flucht aus Ungarn, denn damals war ich gespannt auf das Neue, das mich erwartet und ich hatte die ganze Tragweite ja noch nicht begriffen.

Der Zug fuhr nach Ulm. Vom Bahnhof wurden wir mit einem Lastwagen zur Kienlesberg-Kaserne gebracht. Ein paar Wochen sind wir dort geblieben. Wieder viele Personen in einem Raum. Wir Kinder sind jeden Tag durch die zerbombte Stadt bis zur Georgskirche gegangen, denn dort war noch die Weihnachtskrippe aufgestellt und was uns am meisten faszinierte, das war der kleine Mohr, der davor stand. So etwas hatten wir noch nie gesehen. Wenn man dem Mohr ein Geldstück in den Schlitz warf, dann nickte er dankbar. Doch da wir kein Geld hatten, mussten wir uns etwas einfallen lassen. Sehr schnell hatten wir eine Marktlücke entdeckt. Wir suchten auf der Straße nach weggeworfenen Zigarettenstummeln, die sammelten wir und brachten sie den alten Männern im Lager. Die haben sich riesig gefreut und so bekamen wir immer wieder ein paar Pfennige und die brachten wir unserem kleinen Mohr. Auf dem Weg durch die Stadt bekamen wir auch immer wieder ein Stück Brot oder einen Apfel von freundlichen Frauen in die Hand gedrückt. Man hat es uns also angesehen, dass wir Flüchtlingskinder sind.
 
Eines Tages hat es geheißen, alle sollen ihre Sachen zusammenpacken, wir werden auf die Dörfer verteilt. Am nächsten Tag fuhren Lastwagen vor und es hieß: "Familie Beck, Till,  Hamhaber und Richter auf den nächsten Lastwagen aufsteigen." Und so fuhren wir am 26. Februar 1946 nach Steinberg, Staig und Altheim. Nach Altheim kamen 8 Personen. Wir waren die ersten Flüchtlinge im Dorf. Der damalige Bürgermeister Karl Mangold hat uns empfangen und in sein Wohnzimmer gesetzt. Von seiner Frau bekamen wir ein Honigbrot und er hat schnell ein paar Gemeinderäte zusammengetrommelt und wir wurden dann in das Rathaus in Altheim gebracht. Die Gemeinde-räte saßen hinter dem Tisch und wir standen, wie zu einer Versteigerung davor. So wurde über uns verhandelt. Der Gemeinderat Schneider zeigte auf uns und sagte zum Anton Haag: "Done, nomm doch du dia Drei, noch hosch zwoi Mägd und a Kindsmagd au glei." Den ironischen Unterton habe ich sogar als Kind wahrgenommen. Und so kam es, dass der Bauer Haag uns mit nach Hause genommen hat. Wir sind durch den Garten gegangen und kamen bei der hinteren Türe ins Haus. Ob die Bäuerin erschrocken war, dass ihr Mann ihr drei fremde Personen ins Haus brachte, das weiß ich heute nicht mehr, vorzustellen wäre es jedoch. Gerhard, ungefähr drei Jahre alt, sprang durchs Haus, Toni stand im Laufstall, sie wurde  eine Woche später ein Jahr alt,
die Bäuerin war hochschwanger und Walli kam drei Wochen später zur Welt. Eine Kindsmagd wurde also dringend gebraucht. Am Tag darauf wurde ich auch gleich in meine Aufgaben eingewiesen. Wenn die  Bäuerin morgens im Stall war, musste ich die Kinder aus den Betten holen, anziehen, eine schwarze Brotsuppe vorbereiten und nach dem Melken in die Molkerei und danach in die Schule springen. Aus und vorbei war’s mit meinem „Nachzügler-Bonus“, den ich in Mariakemend so sehr genossen hatte.
Den Gang zum ersten Schultag, den habe ich um ein paar Tage hinausgeschoben. Ich wusste ja, was auf mich zukommen würde. Ich hatte es ja schon einmal mitgemacht in Österreich. Sicher-lich werde ich wieder wegen der Sprache und wegen der Kleidung ausgelacht. Und so kam es auch. Am ersten Tag stand ich während der großen Pause ganz allein neben dem Hauseingang, dann kamen zwei Mädchen vorbei, hielten sich die Nasen zu und eine sagte zur anderen: „Puh, geh weg von der, die stinkt nach Knoblauch“. Wir hatten doch gar keinen Knoblauch, wir haben doch bei Haag’s gegessen. Ich weiß heute noch wer es gesagt hat.
Ein paar Tage später wurde ich wegen meines langen, roten Kleides ausgelacht. In St. Lorenzen haben wir bei Kriegsende „unsere“ deutschen Soldaten wiedergetroffen, die haben uns vom Lastwagen herunter zwei Soldatenmäntel geschenkt. Meine Mutter war eine fleißige Frau, sie konnte viel, doch nähen konnte sie nicht und trotzdem hat sie mir aus dem Futter eines Soldaten-mantels ein Kleid genäht. Viel zu groß, damit es im nächsten Jahr auch noch passt. Den Stoff hat sie rot eingefärbt. Ich weiß noch gut, dass mich die Erstklässler auslachten, wegen des langen Kleides. Sie riefen: „Alta Hex von Bodawix, woißt jo it wenn’s Sonntig isch!“ Und zu allem Überfluss fing es auf dem Heimweg auch noch zu regnen an. Die rote Farbe lief mir über die Beine. Ich kam weinend nach Hause. Was mit dem roten Kleid passiert ist, weiß ich nicht mehr, doch ich hab es nie mehr angezogen.
In der Schule habe ich mich sehr wohl gefühlt. Bald hatte ich mich zur Klassenbesten hoch-gearbeitet und fühlte mich von meinen Schulkameraden angenommen. Ich war „Haages Els“ und gehörte dazu. Es war sicherlich auch ein Verdienst von Herrn Köder, meinem Lehrer. In jeder Klasse waren Flüchtlingskinder und es wurde von ihm kein Unterschied gemacht, alle wurden voll integriert. Und ich möchte behaupten, die Flüchtlinge, welche hier noch zur Schule gingen, haben es sicherlich viel leichter gehabt, sich einzubringen und sie haben schneller dazu gehört und auch sehr schnell den schwäbischen Dialekt gelernt. Lange Jahre dachten wir Flüchtlings-kinder wir gehören voll dazu, doch später kam dann nochmal eine kritische Phase, als uns niemand als Schwiegertochter oder als Schwiegersohn wollte. Doch auch dies haben wir geschafft.

Wir wohnten acht Jahre bei Haag's, voll integriert im Haushalt. Wir hatten wohl zwei Zimmer, doch die ganze Zeit keine eigene Küche. Dass dies von beiden Seiten viel Entgegenkommen und Verständnis abverlangt, das dürfte einleuchtend sein. Es ging uns gut bei Haag's, doch wurden wir noch lange vom Heimweh geplagt. Ich habe es lange Zeit vermieden zu sagen, wo ich geboren bin. Ich wollte nicht, dass jeder gleich merkt, dass ich ein Flüchtling bin. Heute sage ich es, ohne dass ich danach gefragt werde, dass ich "Ungarndeutsche" bin.
Das ist mein Weg, der mir vorbestimmt war. Das ist mein Weg, den ich gehen musste. Heute stehe ich dazu. Es war jedoch ein langer Prozess und es mussten viele Wunden heilen. Heute möchte ich mit niemanden tauschen. Ich bin dankbar für meine schönen Erinnerungen an meine "alte" Heimat und auch dankbar für meine "neue" Heimat.

Doch obwohl es mir hier in der neuen Heimat an nichts fehlt und ich mich hier sehr wohl fühle, so zieht es mich doch immer wieder "heim" nach Mariakemend. Das Gefühl "heim zu kommen" kann ich nicht beschreiben, es ist ein Gefühl der Wärme, der Vertrautheit. Ich möchte nicht mehr für immer dort wohnen, denn man kann die Uhr nicht zurückdrehen. Mariakemend hat 1944 aufgehört ein deutsches Dorf zu sein. Die Bevölkerung wurde vollkommen ausgewechselt. Es geht jedoch weiter in Mariakemend, eben in anderer Art und Weise. Die "neuen" Mariakemender sind auch bemüht, dem Dorf wieder zu Anerkennung und Ansehen zu verhelfen. Vor allem der jetzige Bürgermeister Feri Rott und seine Mitarbeiterin Magdi Rott haben große Leistungen für den Erhalt der Gemeinde erbracht. Sie sind bemüht, alte Strukturen zu erhalten und wieder eine intakte Dorfgemeinschaft ins Leben zu rufen. Sie haben uns die Heimat bewahrt. Auch die jeweiligen Pfarrer der Gemeinde haben für das Dorf und vor allem für den Erhalt der Wallfahrts-kirche Großes geleistet. Nicht vergessen darf man "unseren" Adam Rogner, ein Urgestein, ein gebürtiger Mariakemender, der nach der Flucht wieder zurückgekommen ist und sein eigenes Haus wieder gekauft hat. Adam hat uns "alten" Mariakemendern immer das Gefühl gegeben "willkommen" zu sein.  
Zwischen den "alten" Mariakemendern herrscht auch heute noch ein unwahrscheinliches Zusammengehörigkeitsgefühl. Die Dorfgemeinschaft, die Vertrautheit und Wärme ist auch nach Jahrzehnten noch zu spüren, was mich immer wieder sehr berührt. Zwei Mal im Jahr gibt es ein "Mariakemender-Treffen", im Frühjahr das Bratwurstessen in Langenau und im Herbst trifft man sich in Wolnzach/ Bayern, wo der größte Teil der geflüchteten Mariakemender landete, denn dort hin ging der zweite Transport. Es werden jedoch immer weniger bei diesen Treffen, weil die Alten nicht mehr können oder zum großen Teil schon gestorben sind und ihre Nachkommen haben leider kein Interesse.

Immer wieder finden auch Mariakemender-Treffen in der alten Heimat statt. Von den "neuen" Mariakemendern werden wir stets freundlich aufgenommen und bestens bewirtet, was nicht selbstverständlich ist. Wir "alten" Mariakemender wissen dies dankbar zu schätzen und wir sind froh, dass wir immer wieder "heimkommen" dürfen.
Denn trotz der bitteren Erfahrung der Flucht und Vertreibung sind doch fast alle ehemalige Mariakemender ihrer alten Heimat treu geblieben und sie kommen immer wieder gerne zurück.


Wenn sie mit dem Autor/Autorin des Textes in Kontakt kommen möchten, wenden Sie sich bitte an leserbrief@europa-erleben.net



eingereicht von
Elsa Koch
Kategorie
Kriegsende, Flucht, Vertreibung
Datum
22.02.2010


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