Erfahrungsberichte

Das kleine Mädchen vom Hechwald

Wer den "Hechwald" nicht kennt, der kennt Mariakemend nicht.
Mariakemend heißt der Ort in Südungarn, wo ich geboren und aufgewachsen bin und wo ich neun Jahre eine so wunderbare, geborgene Kindheit erleben durfte. Diese Geborgenheit wurde jedoch jäh unterbrochen durch unsere Flucht am 18. November 1944 und mit einem Schlag war nichts mehr so wie vorher.

Doch in Gedanken bin ich heute noch, nach über 60 Jahren, immer wieder in  dieser heilen Welt, in meinem Elternhaus im Hechwald. Der Hechwald ist landschaftlich die schönste Gasse in Mariakemend. Umrahmt von Akazienwäldern, in stiller Abgeschiedenheit war er
das reinste Paradies für uns Kinder. Wenn im Frühjahr die Akazienbäume blühten und ihr wunderbarer Duft die ganze Siedlung umhüllte, dann gab es wirklich keinen schöneren Flecken im ganzen Dorf.
Im Hechwald wohnten keine großen Bauern, da waren die Tagelöhner, die "Kleinhäusler" und einige Handwerker angesiedelt. Die Siedlung wurde in den 20er und 30er Jahren von jungen Ehepaaren gebaut und so waren alle ungefähr im gleichen Alter. In dieser Gasse herrschte immer reges Treiben und das Leben spielte sich, wie in allen südlichen Ländern, viel im Freien ab. Abends, nach getaner Arbeit, saß man vor den Häusern und "dischgerierte" miteinander.
 
Der Hechwald war die kinderreichste Straße im ganzen Dorf. Und so kann man sich auch vorstellen, dass hier immer etwas los war. Der ganze Haufen war meistens beieinander und es war ein lustiges und erlebnisreiches Miteinander.
Im Sommer, wir hatten ja von Juni bis September Ferien, da war ich die meiste Zeit des Tages allein zuhause. Meine Mutter ist oft schon bei Sonnenaufgang aus dem Haus gegangen, auf's Feld oder in den Weingarten, oder zu den großen Bauern in Taglohn. Mein Frühstück und eine Jause standen auf dem Tisch. Meine Tiere musste ich selber versorgen, denn ich hatte einen Hasen, ein kleines Kätzchen und meinen lieben Freund Daxi, einen kleinen Mischlingshund. Wenn morgens der Schafhirte und der Gänsehirt durch den Hechwald gezogen ist, musste ich die Stalltüren öffnen, damit sich die Schafe oder die Gänse der durchziehenden Herde anschließen konnten. Das durfte ich auf keinen Fall verschlafen. Dann war meine Aufgabe erledigt und ich konnte den ganzen Tag mit den anderen Kindern spielen.
 
Mit großer Begeisterung haben wir Eisenreifen oder Fassreifen mit einem Stecken durch die Straße getrieben. Vor Hermanns Keller war großer Treffpunkt für die Ball- und Hupfspiele. Oft haben wir auch in eigener Regie Theaterstücke eingeübt, wie "Rotkäppchen", "Die Sieben Geißlein" und auch selbst erdachte Vorführungen. Sonntags wurden dann unsere Mütter zu diesen Vorstellungen eingeladen, meistens fanden diese Spiele bei uns im Hof statt. Unsere Sommerkuchel war unser "Schauspielhaus". Die Mütter saßen auf mitgebrachten Stühlen oder einfach im Gras und spendeten uns Beifall.
Ein beliebtes Spielzeug war für uns Mädchen auch das Spiel mit den Kukuruzkolben. Das waren unsere Puppen. Aus Stofffetzen machten wir ihnen Kleider und aus dem Schällaub des Kukuruzes wurden viele Zöpfe geflochten, so wie für die großen Mädchen, wenn sie für den Ball hergerichtet wurden. Doch wenn sich die Buben zu uns gesellten, dann ging es natürlich nicht immer so friedlich zu. Denen sind ganz andere Sachen eingefallen, da wurde nach reifen Kirschen oder Aprikosen Ausschau gehalten, da wurden Vogelnester von den Bäumen geholt. Auch „saldoterles“ haben wir gespielt, es war ja Krieg.
Oft spielten wir auch im Akazienwald Verstecken und immer wieder mussten wir nach dem "Brünnje" Ausschau halten, dessen Wasser man heilsame Wirkung bei Kinderkrankheiten zuschrieb. Der kleine Brunnen lag tief versteckt im Wald und oft kamen Frauen vorbei und legten ein Kinderhemdchen oder andere Kindersachen an den Rand des Brunnens mit der Hoffnung auf Heilung ihres kranken Kindes. Wir warteten immer auf ein Wunder und da wollten wir natürlich dabei sein, wenn dies geschah.

Im Sommer, wenn es sehr heiß war, war die Straße im Hechwald oft 20 cm mit warmem, ja sogar heißem Staub bedeckt und nach einem warmen Sommerregen wurde der Staub zu Matsch. Das war ein schönes Spielzeug für uns Kinder. Nach dem Regen kamen dann alle Kinder barfuß aus den Häusern und aus dem nassen, warmen Dreck haben wir Figuren geformt. Alle "Gatschelöcher" und "Lahmelöcher" (Enten- und Lehmlöcher), die mit Schlamm gefüllt waren, wurden ausfindig gemacht. Wir konnten uns damit stundenlang beschäftigen.
Der Zusammenhalt und die Gemeinschaft der "Hechwaldkinder" war im ganzen Dorf bekannt. Und wenn uns andere Kinder aus dem Dorf spöttisch „Hechwalder Waldaffen" nannten, dann waren unsere Buben zur Stelle und haben unsere Ehre verteidigt. Es war einfach wunderschön, dies alles zu erleben.

Und wenn ich heute, nach so vielen Jahren, im Hechwald stehe und sehnsüchtig zu unserem Haus hinüber schaue, dann gehen meine Gedanken oft zurück in diese unbeschwerte, geborgene Kinderzeit. Und es fällt mir so manches ein, was ich hier erlebt habe. Zum Beispiel als wir unseren eigenen Brunnen bekamen. Das war für uns ein großer Fortschritt und die ganze Familie war sehr stolz darauf. Der Brunnen mit seinem schönen Brunnenhaus steht heute noch in unserem Garten. Ich kann mich noch genau an den Bau des Brunnens erinnern. Ich durfte immer nur aus sicherer Entfernung zuschauen. Doch als der Brunnenbauer fertig war, da sagte er zu mir: "Komm her, Mädje, leich dich auf'n Bauch und scha do nob, noch siechst die Stern." Und tatsächlich, als ich so auf der Erde lag und in den tiefen, dunklen Brunnen schaute, da sah ich am helllichten Tag im Wasser unten die Sterne am Himmel leuchten. Ich war fasziniert und konnte kaum glauben, was ich da gesehen hatte.

Diese Erinnerungen und diese Sehnsucht kann ich mir nicht aus dem Herzen reißen. Und immer hatte ich den Wunsch, noch ein Mal in unseren Garten zu gehen, wo wir gespielt haben, noch ein Mal unser Haus betreten, in das Zimmer schauen, in welchem ich geboren bin, noch ein Mal von unserer "Hofstell" aus den steilen, schmalen Pfad durch den Akazienwald zum "Schofgibbl" hoch zu gehen, den ich so oft gegangen bin, wenn meine Mutter oben im Weingarten gearbeitet hat. Vielleicht wäre dann meine Sehnsucht gestillt, wenn ich sehen würde, wie sich alles verändert hat und nichts mehr so ist, wie ich es mir in meinen Gedanken noch vorstelle. Doch die Leute, die jetzt in unserem Haus wohnen, haben mir bisher, trotz wiederholtem bitten, dies alles verwehrt. Mit welchem Recht eigentlich? Und wenn ich die Frau oder den Mann in unserem Garten gesehen habe, dann ist in mir ein unbeschreibliches Gefühl der Wut, der Ungerechtigkeit, der Wehrlosigkeit hochgestiegen. Mit welchem Recht benehmen die sich so, als ob sie alles aufgebaut hätten, so als ob es uns gar nicht gegeben hätte. Weshalb musste diese Ungerechtigkeit geschehen?

Doch im letzten Jahr, da ist etwas geschehen, was mich sehr lange beschäftigt hat. Als ich mal wieder vor unserem Haus im Hechwald gestanden bin, da kam fröhlich lachend ein kleines Mädchen aus dem Haus. Ein Mädchen mit ungefähr neun Jahren, so alt, wie ich damals war, als wir unser Haus verlassen mussten. Und da ist mit mir etwas geschehen, das ich sehr schwer beschreiben kann. Da ist in mir etwas zerbrochen, ein Gefühl abgestorben. Es hat sehr weh getan. Ich habe gespürt, dass ich hier nichts mehr zu suchen habe, denn dieses kleine Mädchen trifft ja keine Schuld. Sie gehört jetzt in dieses Haus. Es ist jetzt auch ihr Eltern-haus, genau so wie es meines war, es ist auch ihr Geburtshaus, genau so wie es meines ist. Und sie hat wahrscheinlich die gleichen Empfindungen, das gleiche Heimatgefühl, wie ich es für dieses Haus im Hechwald, in der Kossuth Lajos utca, empfinde.

Das kleine Mädchen wird wahrscheinlich nie erfahren, dass meine Eltern dieses Haus gebaut haben. Wahrscheinlich wird sie auch nie erfahren, dass in diesem Haus im Hechwald vor vielen, vielen Jahren schon mal ein kleines Mädchen geboren wurde und hier eine so glückliche, unbeschwerte Kindheit verbracht hat und wahrscheinlich wird ihr auch niemand die Sterne im Brunnen zeigen, wie sie am helllichten Tage leuchten.
 
Dies alles ist Geschichte, ist Vergangenheit und als ich in diesem Jahr vor unserem Haus im Hechwald gestanden bin, da hatte ich zum ersten Mal nicht mehr das große Bedürfnis verspürt, dass ich hineingehen will. Irgend etwas hat sich verändert seit ich dieses kleine Mädchen gesehen habe. Ich wünsche ihr, dass sie glücklich wird und nie so eine Ungerechtig-keit erfahren muss, wie uns geschehen ist. 


Wenn sie mit dem Autor/Autorin des Textes in Kontakt kommen möchten, wenden Sie sich bitte an leserbrief@europa-erleben.net



eingereicht von
Elsa Koch
Kategorie
Kriegsende, Flucht, Vertreibung
Datum
23.11.2009


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