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LeserInnenstellungnahme zu einem weitern Text von Christoph Hein


Christoph Hein : Exekution eines Kalbes

Früh morgens an einem grauen namenlosen Bahnhof. Vier stumme Männer durch sprachlosen Hass mit einander verbinden. Gefangenenabschiebung aus einem DDR-Gefängnis in die BRD.
Sawetzki, einem der Häftlinge, wird nahe gelegt, sein Leben künftig nach den Gegebenheiten einzurichten. Er, ein 31-jähriger Rinderzüchter mit einem Diplom der Hochschule Meißen, hat bis vor einem Jahr als Kälberbrigadier auf einer LPG im Vogtland gearbeitet. Er ist mit Yvonne verheiratet, hat ein Kind und wohnt mit seiner Mutter und deren Mann auf einem Bauernhof. Er "galt als fleißiger und umsichtiger Bauer, vernarrt in seine Tiere, hilfsbereit, aber wortkarg, so arbeitsam wie unnachsichtig gegenüber den Fehlern oder Versäumnissen seiner Kollegen…." Er war beliebt gewesen "bis zu jenem Tag, an dem er unbegreiflich für alle, ein Kalb erschlagen und begraben hatte. Von der Widernatürlichkeit seiner Tat erschreckt, spricht man noch heute im Dorf ungern darüber und wenn, dann wie über ein rätselhaftes, ebenso verwunderliches wie fürchterliches Geschehen."
Das Leben auf der LPG ist hart, die finanziellen Mittel beschränkt, die verschiedenen Brigaden machen einander Konkurrenz, der LPG-Vorsitzende ist überfordert, Partei und Bürokratie behindern die Zusammenarbeit.
Als es auf Grund von Versorgungsschwierigkeiten die ausgeklügelte Zusammenarbeit nicht mehr funktioniert und jede Brigade nur an ihr Wohl denkt, wird das Arbeitklima immer schlechter. Kündigungen werden nicht akzeptiert, Arbeitsverpflichtungen nicht ausgeführt, Streitigkeiten nehmen zu. Es kommt zu einem Unfall: Kühe, die wegen der Überfüllung der Ställe - es wird nicht geschlachtet, weil die Rinder wegen Futtermittelknappheit nicht schwer genug sind - auch im November noch auf der Weide sind, geraten unter einen Güterzug. Der LPG entsteht großer Schaden. Aber auch diese Katastrophe führt nicht zu einer Neuorganisation des Betriebs. Bürokratische Vorschriften blockieren jede vernünftige Lösung.
Sawetzki verbringt die meiste Zeit mit seinen Kälbern ("Primat der Arbeit") und vernachlässigt seine Frau. Besorgt beobachtet seine Mutter, wie sich das junge Paar immer mehr entfremdet. Sie erkennt das "Unmaß seiner Einsamkeit", sie sieht, dass er wie sein Vater ein "Mann ist, der nicht lieben konnte und nicht lieben wollte". Yvonne, eine auffallend schöne Frau ist nicht mehr bereit, die Lieblosigkeit ihres Mannes hinzunehmen und tröstet sich mit einem Deutschlehrer.
Als es Sawetzki nach mehreren Versuchen nicht gelingt, eine kleine Veränderung durchzusetzen - das überzählige Kalb aus dem Kuhstall seines Schwiegervaters soll in einen Kälberstall "umgesetzt" werden - "exekutiert" er es aus Protest gegen die "barbarische Fruchtbarkeit" der Kühe und die Hilflosigkeit des LPG-Vorsitzenden vor dessen Büro Der entsetzte Vorsitzende und der Parteisekretär lassen es bei einer milden Strafe bewenden, schließlich ist der tüchtige Brigadier nicht zu ersetzen.
Sawetzki macht seine Arbeit wie vorher. Mit seiner Frau hat er kaum noch Kontakt. Bei einem Urlaub in Bulgarien versucht er, in die Türkei zu fliehen und wird dabei gefasst. Er wird zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, aber bereits nach acht Monaten in die BRD abgeschoben.
Dort arbeitet er als Vertreter einer Kerzenfabrik. Angebote aus der Landwirtschaft lehnt er brüsk ab. Zwei Jahre besucht er seine Mutter. Als er sie wieder verlässt, kommt es ihr so vor.
"während sie dem davonfahrenden Auto des Sohnes nachblickt, als würde dieses Auto die Landschaft zerschneiden, und sie beide, ihr Sohn und sie, schon weit voneinander entfernt, versänken in diesem Schnitt und die Horizonte schlügen über ihnen zusammen".

Die Geschichte ist in kunstvoll klarer Sprache äußerst spannend erzählt. Das Leben auf der LPG in seiner bürokratischen Erstarrung wird unmittelbar erfahrbar. Man begreift, dass eine völlig verplante Wirtschaftsweise dem Leben - Kühe sind eben keine Maschinen - nicht angemessen sein kann.
Auch die Beziehungen unter den Menschen sind erstarrt. Es herrschen Sprachlosigkeit und Freudlosigkeit. Nur das Funktionieren im Arbeitsprozess zählt. Allein Sawetzkis Mutter hat eine Ahnung von einem anderen Leben. Sie erinnert sich an ihren Vater, der mit ihr gemalt hat, der sie schön fand. Bei ihm gab es Verständnis, Gespräche und Geselligkeit. Sie weiß, dass sie sich ihrer Familie nicht verständlich machen kann und bleibt in ihrer Sehnsucht nach einem liebevollen Miteinander allein.
Im Erzählband "Exekution eines Kalbes" schildern Erzählungen aus mehreren Jahrzehnten. das Leben in der DDR aus verschieden Perspektiven.
So begegnet z. B. in "Unverhofftes Wiedersehen" ein Stasiopfer seinem Peiniger, als er sich in der Bundesrepublik um eine Stelle bewirbt. Dieser entscheidet wieder aus einer Machtposition über sein Leben.
In "Die Vergewaltigung" will eine erfolgreiche Politfunktionärin vor sich selbst verleugnen, dass sie als Kind erleben musste, wie ihre Großmutter von Russen vergewaltigt wurde. Ihr Körper jedoch wehrt sich dagegen.
Ein opportunistischer Wissenschaftler versucht mit fadenscheinigen Gründen sein Scheitern zu erklären - "Auf den Brücken friert es zuerst"
Alle diese Texte ermöglichen einen guten Einstieg in das vielseitige, sehr lesenswerte Werk Christoph Heins.

Christoph Hein, Exekution eines Kalbes, Aufbau-Verlag 1994/ Suhrkamp-Verlag € 7.50

Wichtige Links hierzu: :
Biographie www.suhrkamp.de/autoren/hein.htm
Homepage www.oneeyedman.com/home/heinpage.html

In einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung erklärte Christoph Hein am 1. 6. 2002 in Bezug auf "Drachenblut":
"Drachenblut" ist keine Geschichte über die DDR, obwohl sie in ihr spielt. Das hat zu ihrem Erfolg auch in vielen westlichen Ländern beigetragen. Es ist ein Buch über ein modernes Lebensgefühl: Fremdheit, Kälte, Isolation. Lediglich in der Tatsache, dass es in einem sozialistischen Land eben nicht anders, humaner zugeht, mag man eine spezifische Provokation gesehen haben. Zwei intelligente, aufgeklärte Menschen suchen einander. Sie wollen sich vor verletzenden Gefühlen schützen, aber gerade deswegen verfehlen sie einander auch, mit tödlichen Folgen.

Dieses moderne Lebensgefühl zeichnet auch Sawetzki aus.