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Europa für Seniorstudenten
                             von Daniel Meynen
Heute ein Senior zu sein, bedeutet zunächst zwischen 1915 und 1955 geboren zu sein.
Diese Generationen sind im Schatten der beiden Weltkriege groß geworden. In ihr Bewusstsein hat sich eingegraben Täter oder Opfer politischer Kriminalität  zu sein.

Senioren und ihre Erfahrungen
Jeder von uns weiß aus eigener Erfahrung, was es bedeutet, Vater oder Mutter, Brüder oder Schwestern durch Gewalt verloren zu haben. Viele wissen, was es bedeutet zu hungern und nichts zu essen, zu frieren und keinen Schutz zu haben. Unsere Generationen wissen, dass die Gräben, die Europa geteilt haben, so tief waren, dass wir uns nicht mehr vorstellen konnten, wie es sich auf der anderen Seite lebte, wie die Europäer jenseits der Grenze fühlten, dachten, was sie liebten, was sie fürchteten, was sie erhofften. Wir haben erfahren, wie die faschistischen und kommunistischen Ideologien die Wahrnehmung für die anderen verzerrt haben. -

Senioren sind Zeugen
Aber diese Generationen sind auch Zeugen der Tatsache, dass solche blutigen Grenzen mit Mut, Weisheit und in Solidarität überwunden werden können. Diese Generationen kennen die Höhen und Abgründe der europäischen Geschichte aus eigenem Erleben.
Heutzutage ein Senior zu sein, bedeutet aber auch, nach dem Ausscheiden aus dem Beruf, ohne eine klare soziale Funktion und öffentliche Rolle in der Gesellschaft zu sein. Diese Generationen wünschen sich Aufgaben, die ihnen selbst Sinn und persönliche Befriedigung geben und der übrigen Gesellschaft öffentlichen Nutzen bringen.

Senioren und Studium
Vor allem aber wissen wir, dass wir frei und ohne irgendeinen Zwang studieren können. Wir studieren ohne berufliche Zwecke und ohne Karriereabsichten, (auch in erster Linie) nicht um Geld zu verdienen, sondern vorrangig aus persönlichem Interesse, weil wir Orientierung in der Welt der Wissenschaft und der Philosophie, in der Literatur und im politischen Leben suchen.
Wir suchen primär nach Sinn und weniger nach Nutzen. Ob wir Physik oder Astronomie, Biologie oder Sprachen, Philosophie oder Kunst studieren: Es geschieht immer um zu erfahren, „was die Welt im Innersten zusammenhält." Wir wollen gute Gesprächspartner für die Jüngeren sein, wir wollen unsere Kinder und Enkel verstehen und begleiten können.
Wir bemühen uns, unseren Gesellschaften, für die wir uns mitverantwortlich fühlen, gute Stützen sein.

Regionalkulturen
Wir leben in unterschiedlichen Regionalkulturen und Sprachen, die es uns schwer machen, einander zu verstehen. Aber sobald wir einen Dialog beginnen, bemerken wir, dass wir das geistige Erbe, das wir den antiken Denkern, den Kirchenlehrern, den Humanisten und Aufklärern verdanken, auch in den anderen europäischen Kulturen und Sprachen wieder finden. Unsere europäischen Maler, die Musiker, die Architekten und die Wissenschaftler verbinden uns. Die vielen Jahrhunderte des europäischen Zusammenlebens haben in uns gemeinsame Werte entstehen lassen: die Werte der persönlichen Freiheit, der demokratischen Solidarität, der christlichen Caritas, der Humanität und der Rechtsstaatlichkeit.

Was Europa für uns bedeutet, hat der diesjährige Träger des europäischen Karlspreises, der polnische Ministerpräsident Donald Tusk vor wenigen Wochen in Aachen ausgesprochen:

Würde der Bräuche

„Oft habe ich überlegt, wie es dazu kommen konnte, dass es dem Nationalsozialismus und Kommunismus nicht gelungen ist, uns das Erbe Europas zu entreißen. Man könnte meinen, dass wir auf wenig zurückgreifen konnten, um uns zu verteidigen: zerstörte Friedhöfe, den Schatten einer großen gotischen Kirche, das Läuten der Glocken des Rathausturmes .... Wir besaßen noch etwas, was jemand sehr schön als „bescheidene Würde der Bräuche" bezeichnet hat. In meinem Fall waren es die sonntäglichen Ausflüge mit meinen Eltern zur Konditorei, die wir unternahmen, um uns von dem grauen Alltag und seiner Armut abzugrenzen. In meiner Familie war es auch das gemeinsame Musizieren an Feiertagen, was auch - so erfuhr ich später - Brauch war in Triest, München oder Utrecht (und möglicherweise bis heute dort fortlebt).

Organische Kontinuität und Identität
Ein solches Europa lebte in uns fort, oder zumindest lebte in uns die Treue zum Traum von Europa weiter. Der spanische Philosoph José Ortega y Gasset hat möglicherweise recht, wenn er schreibt, dass die Einzigartigkeit Europas in dem Bewusstsein für Historizität besteht, wegen dem Europa eine eigene organische Kontinuität und Identität besitzt. Weil es eine Gemeinschaft der Kooperation und der Konflikte, des Austauschs und der Sitten, und weil es kein Konstrukt von Ideologen ist, kann Europa eben den Ideologien widerstehen, sogar denjenigen - die, wie der Nationalsozialismus und Kommunismus - aus dem europäischen Geist entstanden sind, aber diesen letztendlich nicht verderben konnten.

Europa Heimat und Ausland
Dennoch mussten solche Ideologien ihre Spuren in der europäischen Identität hinterlassen. Dies gilt möglicherweise besonders für jene Landstriche des Kontinents, die aus verschiedenen historischen und geografischen Gründen den Charakter von Grenzländern haben. Zweifelsohne hat der Kommunismus hier die spezifische Art widersprüchlicher Gefühle verstärkt: Wir fühlen uns in Europa als Einheimische und zugleich auch als Fremde, um hier den polnischen Literaturnobelpreisträger Czesław Miłosz zu zitieren.
Aber vielleicht ist es so, dass Europa solche Europäer braucht, für die es sowohl Heimat als auch Ausland ist, etwas Eigenes und etwas Fremdes. Vielleicht entsteht aus solchen Beziehungen und Spannungen eine bessere und menschlichere Gemeinschaft."

Rolle der älteren Studenten
Es könnte bedeuten, die eigene Kultur, die eigenen literarischen Träume, die eigene Philosophie und Geschichte zu leben und zu pflegen und immer offen zu sein für das Geben und Nehmen mit den Anderen.
Es könnte bedeuten, die Diversität der europäischen Kulturen, Träume und Philosophien, die Diversität der Regionalgeschichten als eine starke Quelle der Inspiration für uns selbst zu begreifen.
Es könnte bedeuten, die Begegnung mit anderen Älteren wie Jüngeren zu suchen, den Dialog der Kulturen zu lieben und ihren Reichtum den Jüngeren zu überliefern, wo und wann immer sie ihn brauchen und wünschen.

Aufgabe der älteren Studenten
Schaffen wir interkulturelle Studiengruppen. Wir Älteren haben die Freiheit, sie entstehen zu lassen. Sie sind Werkstätten des europäischen Kulturdialogs. Es lohnt sich, das gemeinsame Erbe Europas ebenso gründlich zu studieren, wie das spezielle unserer Sprach- oder Regionalkultur. Wir brauchen in Europa keine dominante Kultur, sondern eine wechselseitige Vernetzung unserer Regionalkulturen mit vielen Knoten.Die Erfahrung unserer Nachkriegs-Generation sagt: Wir brauchen viele solche Werkstätten.
Gekürzter Vortrag des Autors in der Universität Wroclaw (Breslau).

 
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