Pressebericht

SÜDWESTPRESSE Ulm vom 30. Mai 05

60 Jahre nach dem Kriegsende treffen Ulmer Senioren Veteranen in Russland

Soldatenfriedhöfe und Gedenkstätten besucht - Viele Gespräche und viele Tränen

Als Lisbeth Stähle noch ein Kind war, hat ihr Vater ihr viel von Stalingrad erzählt. Dort war er Häftling in einem russischen Kriegsgefangenenlager. Jetzt ist Lisbeth Stähle nach Russland gefahren, um Land und Leute kennen zu lernen. Die Uni Ulm hatte die Reise organisiert.

Von Katja Block

Reise in die Vergangenheit

Lisbeth Stähle war acht, als sie ihren Vater kennen lernte. Sie denkt kurz nach. „Ich ging schon zur Schule”, sagt sie dann. Der Mann, der damals zur Haustür hereinspazierte, war ein Fremder für sie. Das war im Herbst 1949. Fünf Jahre hatte Christian Stähle zuvor in Stalingrad zugebracht. Als Häftling in einem Kriegsgefangenenlager.

Lisbeth Stähle ist heute 64 Jahre alt. Vor kurzem ist sie aus Russland zurückgekommen. Mit einer Seniorengruppe des Zentrums für Allgemeine Wissenschaftliche Weiterbildung (Zawiw) der Uni Ulm hat sie das Land besucht, das sie bisher nur aus den Erzählungen ihres Vaters kannte. „Vom Krieg hat mein Vater nie gesprochen”, sagt sie, „von seiner Gefangenschaft schon. Und genau dieses Land und die Menschen wollte ich kennen lernen.”

Zawiw-Chefin Carmen Stadelhofer hatte die Reise vorbereitet als einwöchiges Begegnungsseminar zwischen deutschen und russischen Senioren. Das Thema: 60 Jahre Kriegsende - Leben wie ein Geschichtsbuch. „Alle neun Teilnehmer sind mit ganz persönlichen Motiven nach Russland gefahren”, sagt Carmen Stadelhofer. Zum Beispiel die Frau, deren Vater während des Russlandfeldzugs gefallen ist. Keiner kennt das Grab des Mannes. Die Tochter wollte jetzt das Land sehen, unter dessen Erde ihr Vater liegt. Doch da war auch die Unsicherheit vieler Teilnehmer. Manche haben sich gefragt: Wie werden wir aufgenommen? Sind wir für die Russen alle Nazis?

Die Sorgen waren unbegründet. Mit vielen bewegenden Eindrücken sind die Ulmer Senioren zurückgekommen. Sie haben die Städte Orel und Kursk südlich von Moskau besucht, haben mit russischen Kriegsveteranen den „Tag des Sieges über den Faschismus” erlebt, der in Orel mit einer großen Parade gefeiert wurde. „Bei allem Siegestaumel waren die Russen uns Deutschen gegenüber sehr freundlich”, berichtet Seminarteilnehmerin Waltraud Lö-sing, 67. „Spontan gaben uns russische Menschen Blumen.” Tränen flossen vor allem beim Besuch von Soldatenfriedhöfen und Gedenkstätten, die an die Panzerschlacht im Juli 1943 am Kursker Bogen erinnern. Damals kamen hunderttausende deutsche und russische Soldaten ums Leben. „Die Russen haben die Schrecken des Krieges nicht vergessen”, erinnert sich Waltraud Lösing. „Aber sie wurden uns nicht angelastet.”

Die Hände geschüttelt

Die vielen Gespräche, die die Ulmer mit russischen Zeitzeugen geführt haben, bestätigen das. „Die Kriegsveteranen waren unglaublich herzlich”, sagt Carmen Stadelhofer. „In Uniformen, hochdekoriert mit vielen Orden, haben sie uns die Hände geschüttelt und erzählt, wie sie die Deutschen damals im Krieg erlebt haben.”

Carmen Stadelhofer im Gespräch mit einem Senior
In Russland haben sich die Ulmer Senioren mit vielen Zeitzeugen unterhalten. Hier Zawiw-Chefin
Carmen Stadelhofer (links) im Gespräch mit einem alten Ehepaar, das sie am „Tag des Sieges” in
Orel kennen gelernt hat. Eine Russin übersetzt.

Da waren die Erinnerungen an Not und Elend in den Wirren des Krieges. Aber auch die Erinnerungen an Menschen, die sich trotz allem ihre Menschlichkeit bewahrt hatten: „Viele Russen haben uns erzählt, dass Deutsche ihnen geholfen hätten”, berichtet Carmen Stadelhafer. Etwa der Wehrmachtssoldat, der ein russisches Kind vor dem Abtransport bewahrte, indem er es als sein eigenes ausgab.

Die Tischrede eines russischen Wirtschaftsprofessors hat Waltraud Lösing besonders erschüttert: „Er erzählte uns von seinem Vater, der über 80 Jahre alt ist. In einem deutschen Konzentrationslager sei er schlimm zugerichtet worden. Er ließ uns aber trotzdem grüßen und ausrichten, er habe dem deutschen Volk nie etwas nachgetragen.”

„Die Menschen in Russland wissen, dass es auf beiden Seiten Opfer gab”, bestätigt Lisbeth Stähle. „Und sie machen einen großen Unterschied zwischen den Deutschen als Volk und den Deutschen in der Wehrmacht.” Die 64-Jährige war zum ersten Mal in Russland. Die Fahrt war für sie wie eine Reise in die eigene Vergangenheit. „Meine Eltern haben von früher nie etwas erzählt. Jetzt bedauere ich, dass ich als Kind und Jugendliche nie nachgefragt habe.”

Lisbeth Stähle will wieder nach Russland fahren. Irgendwann. Dann soll es direkt nach Wolgograd gehen, in das frühere Stalingrad -zu dem Ort, an dem ihr Vater vor 60 Jahren gefangen war.