Vor dem Wacholder geh’ auf die Knie…
                                   von Roswitha Ludwig
Seit Jahrtausenden nutzen die Menschen Wacholder als Gewürz, als Heilmittel, als Duftstoff. Auch mythisch religiöse Bezüge werden in ihm gesucht. 2002 wurde Wacholder Baum des Jahres als Bestandteil der schützenswerten Heidelandschaft.

Botanische Einordnung
Wacholder gehört zu den Zypressengewächsen, ist also immergrün und kann viele Hundert Jahre alt werden. Als Gehölz mit sehr spitzen Nadeln wird er von Schafen und Ziegen verschont, wächst oft vereinzelt auf kargen Heideböden in rauen Gegenden.
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Es gibt über 50 Arten vom Baum bis zum Strauch. In verkrüppelten Formen findet man ihn über die Baumgrenze hinaus. Die Pflanze ist meistens zweihäusig (männlich - weiblich). Die Frucht wird Scheinbeere genannt, weil sie in einem Zapfen heranwächst. Blüten und Samen findet man gleichzeitig vor. So gibt es einjährige und zweijährige Samen. Wenn sie dunkel sind, werden sie geerntet.
Man würzt Wild und Kraut damit und verwendet sie auch für Wacholderbrände. Alle Teile der Pflanze enthalten wohlriechende ätherische Öle, Holz, Nadeln und Beeren. Die Inhaltsstoffe sind heil-, duft- und würzkräftig. Das Wort Wacholder bedeutet mhd. „lebendiger Strauch", das lässt sich auch auf Gesundheit fördernd und Leben spendend beziehen.

Märchen „Von dem Machondelboom"
Der Maler Philipp Otto Runge übermittelte den Gebrüdern Grimm dieses Märchen. Es stammt aus dem Niederdeutschen und wurde in plattdeutsch erzählt.
Einem Ehepaar bleibt lange Zeit der Kinderwunsch versagt. Schließlich bekommt die Frau ein Kind, aber sie stirbt bei der Geburt. Der Mann heiratet nach einiger Zeit wieder. Seine zweite Frau bringt eine Tochter mit in die Ehe. Diese soll mit dem Sohn aus erster Ehe aufwachsen.
Der Sohn verschwindet. Nach der Aussage der Frau besuche er Verwandte seiner Mutter. In gespenstischer Unruhe taucht ein Vogel auf, der dem Mann eine goldene Kette zukommen lässt, der Tochter ein Paar rote Schuhe. Unter einem herabfallenden Mühlstein wird die zweite Frau begraben. Danach steht der Sohn wieder vor Vater und Schwester, glücklich sind sie vereinigt.

Die Grausamkeiten dieses Märchens

Die Stiefmutter ermordet den Jungen vorsätzlich. Der Böse verleitet sie dazu. Den Plan fasst sie beim Öffnen der Apfelkiste. Der Junge soll sich einen Apfel herausnehmen. Als er sich in die Kiste beugt, schlägt die Mutter den Deckel zu und trennt ihm den Kopf ab. Sie nimmt diesen, bindet ihn mit einem Tuch wieder auf den Rumpf und setzt das Kind mit einem Apfel in der Hand auf den Stuhl. Wenn er nicht reagiere, rät die Mutter ihrer Tochter, solle sie ihm eine Ohrfeige geben. Dabei rollt der Kopf herab. Das Kind muss denken, es habe den Tod verschuldet.
Nicht genug - die Frau zerhackt den toten Körper und kochte ihn „in Sauer". Das Gericht braucht kein Salz, weil das Mädchen seine Tränen hineinweint. Als der Vater heimkommt, fragt er nach dem Jungen. Zunächst ist er traurig, dass er weggegangen ist, ohne sich zu verabschieden. Dann verspeist er das Gericht mit zunehmendem Genuss. Die abgenagten Knöchlein sammelt das Kind ein, bindet sie in ein Tüchlein und bringt sie hinaus. Wieder zurück, isst es auch.

Die Frau und der Machandelbaum

Der Baum als zentraler Ort des Märchens kommt ins Spiel, wenn es um Leben und Tod geht. Die erste Frau steht davor mit der Sehnsucht nach einem Kind. Im Winter isst sie hier einen Apfel. Beim Schälen schneidet sie sich und Blut tropft in den Schnee. Rot wie Blut, weiß wie Schnee, so wünscht sie sich ein Kind. Unter dem Baum gewinnt sie Zuversicht. Der Winter vergeht, die Natur entfaltet ihre Pracht. Die Frau steht unter dem duftenden Baum - immer wieder. Er zieht sie an, „ihr Herz sprang vor Freude". Im sechsten Monat werden die Früchte dick und stark - und sie wurde stiller. Im siebten Monat isst sie gierig von den grünen Früchten und wird krank. Heiterer wird sie wieder, als sie dem Mann ein Versprechen abgenommen hat. Sollte sie sterben, würde er sie unter dem Machandelbaum begraben. Das Söhnchen wird geboren und es heißt, sie sei vor Freude gestorben. Mit dem Begräbnis bekommt sie für immer ihren Platz unter dem Baum.
War er nicht auch vorher das Zentrum ihres Lebens?

Der Sohn und der Machondelbaum
Unter diesen Baum legte das Mädchen das Tuch mit den eingesammelten Knöchlein. Der Baum gerät in Bewegung, von Feuer und Nebel ist die Rede. Ein Vogel steigt auf. Marlenchen wird wieder heiter, als ob der Bruder noch lebte. Nichts liegt mehr unter dem Baum und der Baum steht wie vorher. Umhüllt von den Ästen hat sich sozusagen eine Neuschöpfung vollzogen. Wie ein Phönix aus der Asche ist der Vogel aufgestiegen.
Auf drei Dächern singt er sein trauriges Lied, das nicht zu überhören ist.
Mein Mutter, der mich schlacht,
mein Vater, der mich aß,
mein Schwester der Marlenichen
sucht alle meine Benichen,
bindt sie in ein seiden Tuch,
legt's unter den Machandelbaum.
Kiwitt, kiwitt, wat vör`n schöön Vagel bun ik!"
Keiner spricht über den Inhalt, jeder möchte es noch einmal hören und gibt dafür das Gewünschte: der Goldschmied die Kette, der Schuster die roten Schuhe und die Müller den Mühlstein.
In der Kerkerszene in Goethes Faust I singt das Gretchen diesen Vers, nachdem sie ihr Kind getötet hat.

Gerechtigkeit und Verwandlung

Auf dem Wipfel des Machandelbaums singt der Vogel sein Lied ein letztes Mal. Vater und Schwester gehen nacheinander vor die Türe und erhalten die Geschenke. Die Mutter gerät in einen unerträglichen Angstzustand. Vor der Türe trifft und zerschmettert sie der Mühlstein. Aus Feuer und Nebel tritt der Junge hervor. Die Drei kehren glücklich in ihr Haus zurück, setzen sich an ihren Tisch und essen.
"Vor dem Holunder verneige dich, aber vor dem Wacholder gehe auf die Knie", so tradiert der Volksmund alte Glaubensinhalte aus vorchristlicher Zeit.
Im Märchen ist der Schwangerschaftswunsch der Frau mit dem Baum verbunden. Sie wird von ihm angezogen, fühlt sich getröstet, wenn sie hier ihre letzte Ruhe finden kann. Was Böses im Haus geschieht, findet an dieser Stelle Sühne. Hier fügen sich die Knochen des Kindes wieder zusammen. Beginn des Lebens, Totenplatz als Grabstätte, Verwandlung und Rückkehr ins Leben, alles geschieht hier.

Wacholder in verschiedenen Kulturen
Über weite Räume und Zeiten hinweg kann man der Verbindung Mensch und Baum nachspüren und immer wieder stößt man auf Wacholder.
In Ägypten wurde bei der Einbalsamierung der Toten Wacholder verwendet. Der Prophet Elia schläft voller Todessehnsucht unter einem Wacholderbusch ein und wird von dem Engel gerettet (1. Könige 19,4).
Christliche Sinngebung und Volksglauben im Mittelalter verbanden sich. Man räucherte gegen die Pest mit der Hoffnung auf Reinigung und Verschonung. Tatsächlich besitzen die Stoffe eine antiseptische Wirkung. Judas soll sich an einem Wacholder erhängt haben, erzählt man in manchen Gegenden.
Wacholdersträuße galten als Abwehrmittel gegen Böses und Bedrohliches. Von Eifeldörfern wird berichtet, dass Wacholder auch in der weihnachtlich geschmückten Kirche neben dem Tannenbaum zu finden war.
Das gewachsene Interesse an Bäumen hat in den letzten Jahren den Blick wieder neu auf mythische Bezüge gelenkt.

Links und Literatur


Text des Märchens

Wacholder - Baum des Jahres 2002

Lutz Röhrich:
„und weil sie nicht gestorben sind...; Anthropologie, Kulturgeschichte und Deutung von Märchen; Köln, Weimar, Wien 2002


 
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