Ausgewählte Gedichte zum Thema Wasser
                            von Erdmute Dietmann-Beckert

Wasser aus dem Meer. Wasser aus der Erde. Wasser aus den Wolken. Wasser aus dem Brunnen. Wasser für Leben und Wasser für Tod. Alles wird in Gedichten thematisiert. Ich habe Autoren und Texte aus unterschiedlichen Epochen gewählt.

Der römische Brunnen von C. F. Meyer, 1825 – 1898
Aufsteigt der Strahl, und fallend gießt
Er voll der Marmorschale Rund,
Die, sich verschleiernd, überfließt
In einer zweiten Schale Grund;
Die zweite gibt, sie wird zu reich,
Der dritten wallend ihre Flut,
Und jede nimmt und gibt zugleich
Und strömt und ruht.

Illustration
Fontäne in der Lahn

Conrad Ferdinand Meyer beginnt sein Gedicht mit einem Verb, das die Aufwärtsbewegung gleich zweifach enthält: steigen und auf. Damit wird die Dynamik des Steigens betont und der Gegensatz zum Fallen verstärkt. Das Wasser fällt und fließt. Die Schalen nehmen und geben, das Wasser strömt und wallt. Mit diesen Verb-paaren entstehen eine Melodie und ein Rhythmus. Sie klingen aus mit dem letzten Verb: ruht.
Ich lese den Text nicht als Beschreibung eines Brunnens, sondern im übertragenen Sinn als ein Vergleich mit dem Leben, das Höhen und Tiefen, Aktivität und Ruhe kennt.

Römische Fontäne von R. M. Rilke
, 1875 – 1926, Borghese
Zwei Becken, eins das andre übersteigend
aus einem alten runden Marmorrand,
und aus dem oberen Wasser leis sich neigend
zum Wasser, welches unten wartend stand;

dem leise redenden entgegenschweigend
und heimlich, gleichsam in der hohlen Hand
ihm Himmel hinter Grün und Dunkel zeigend
wie einem unbekannten Gegenstand;

sich selber ruhig in der schönen Schale
verbreitend ohne Heimweh, Kreis aus Kreis,
nur manchmal träumerisch und tropfenweis

sich niederlassend an den Moosbehängen
zum letzten Spiegel, der sein Becken leis
von unten lächeln macht mit Übergängen.

Rainer Maria Rilke
hat sein Gedicht in Form eines italienischen Sonetts geschrieben. Auf die ersten zwei Strophen, den Quartetten, folgen die beiden letzten Terzette.
Das deutsche Wort Fontäne hat eine andere Konnotation als das italienische fontana, das auch Brunnen heißt. Im Vergleich zu dem Gedicht von C.F. Meyer wird hier der römische Brunnen beschrieben. Dieser strahlt Ruhe und Stille aus. Das Wasser neigt sich leise, leis‘, es redet leiseschweigt und es ruht in der Schale. Der Blick des Beobachters folgt dem Wasser, das seinen Weg nur tröpfchenweise durch die dicht gewachsenen Pflanzen hindurch findet. Auf der letzten Schale widerspiegelt es den Himmel und wirft von unten Lichtreflexe auf den Stein. Mir erscheinen sie wie ein unsicheres Lächeln. Der Text lädt ein zur Meditation.

Knabe und Tod von E. Mühsam, 1878 – 1932
„Komm‘ her, mein Sohn, Du bist vom Spiel erhitzt.
Wie dir das Wasser aus den Poren schwitzt.
Komm’ trink‘ einmal! – Wie das erfrischt!
Wie das den Schweiß dir von der Stirne wischt!
Ich halt‘ den Schwengel! – Komm‘ nur – forsch!“
Den Knaben zieht’s zum Brunnen mit Gewalt.
Er hört nicht mehr des Freundes banges: Halt!
O Knabe, folge nicht der Stimme, die dich rief!
Trink‘ nicht!- Du bist noch jung und rot! –
Das Brett, auf das du trittst, ist morsch! –
Der Brunnen ist so grundlos tief –
Und dort der Mann am Schwengel ist – der Tod!

Der Dichter Erich Mühsam
ist vor und während des Ersten Weltkriegs politisch tätig gewesen. Nach dem Krieg hat er sich an der „Münchener Räterepublik“ beteiligt. Der Zeitgeist stand ihm feindlich entgegen. Es gab keinen Platz für freie Geister. Immer wieder wurde er verhaftet und kam frei. Von daher verstehe ich sein Gedicht. Das Wasser steht als Metapher für Verlockung und Gefahr, sogar für Tod. Zu Beginn des Nazi-Regimes musste er ins Konzentrationslager und wurde ermordet.

Wasser zu Wasser von A. Lutz
,*1952
Manche Worte werden zu Tränen
Sie füllen den Ozean
Wasser zu Wasser – Salz zu Salz

Gegen das Tosen der Brandung
Habe ich meinen Schmerz hinausgebrüllt.
Der Wind hat die Worte gepackt
In alle Richtungen verweht.
Dann war es still. Ruhe nach dem Sturm.

Glitzernde Tropfen funkeln auf meiner Haut
Ich spüre das Wasser auf meinen Lippen
Wasser zu Wasser – Salz zu Salz

Andrea Lutz hat das Gedicht 2005 geschrieben. Die drei Zeilen der ersten Strophe enden wie die der letzten Strophe: Wasser zu Wasser – Salz zu Salz. Sie bilden eine Art Klammer um die fünf Zeilen der zweiten Strophe, der Mitte des Gedichts und dem Schwerpunkt der Aussage. Das Leid ist so groß, die Tränen haben den Ozean gefüllt. Den Schmerzensschrei hat der Wind davongetragen. Es wird still, die Ruhe breitet sich aus. Das Wasser hat erleichtert, jetzt erquickt es. Die Autorin schreibt, dass nicht alle Ihre Gedichte einen autobiographischen Hintergrund haben. So gehe ich von einer persönlichen Erfahrung aus.

Alles ist aus dem Wasser entsprungen! von J.W. Goethe
, 1749 – 1832
Alles wird durch Wasser erhalten!
Ozean, gönn uns dein ewiges Walten
Wenn du nicht Wolken sendetest.
Nicht reiche Bäche spendetest,
Hin und her nicht Flüsse wendetest,
Die Ströme nicht vollendetest,
Was wären Gebirge, was Ebnen und Welt?
Du bist’s der das frischeste Leben erhält!

Die vier Konjunktive, mit denen die mittleren Zeilen enden, geben dem Gedicht Johann Wolfgang Goethes ein deklamatorisches Pathos, das in den letzten Zeilen einen Höhepunkt erreicht. An den Ozean wird wie an eine Person appelliert, den Wolken zu befehlen, Bächen, Flüssen und Strömen das Wasser zur Verfügung zu stellen, denn das garantiert Leben. Auch die Schönheit der Welt steht im Zusammenhang mit Wasser. Der Ozean ist der Akteur, der Wolken und Regen hervorbringt. Goethe beschreibt mit seinem Gedicht den Kreislauf des Wassers.

Bedeutung des Wassers im Psalm 65,10
Gottes Brünnlein hat Wasser die Fülle.
Du lässest ihr Getreide gut geraten; denn so baust du das Land.
Du tränkst seine Furchen und feuchtest seine Schollen;
Mit Regen machst du es weich und segnest sein Gewächs.

Der Dichter des Psalms, König David, hat vor ungefähr tausend Jahren vor Christus im Orient gelebt. Er kannte die Wüste und wusste, wie nötig das Wasser ist für Mensch, Tier und Land. Gott ist der Geber, er füllt die Quelle. So sorgt er dafür, dass genug Wasser vorhanden ist. Er lässt es regnen, und er segnet die Früchte.

Meine Gedanken
Es hat mich fasziniert, auf welche Weise das Wasser für die unterschiedlichen Autoren ein Anlass wurde, Gedichte zu schreiben. Sie haben ihre Beobachtungen, Erfahrungen und ihr Wissen in Verse gegossen. Verse, die mich als Leser angesprochen haben. Sie sind mit Recht in die Literatur eingegangen. Nicht immer erschließen sie sich im ersten Lesen oder Hören. Manche, so denke ich, sollten einfach laut gelesen werden. Sie wirken dann durch ihre Melodie, ihren Klang.

Links

Sonett

J.W. Goethe Alles wird durch Wasser ...


Antoine de Saint Exupéry


Ein Schülerprojekt




 
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