Am Brunnen vor dem Tore
                                     von Lore Wagener
Das bekannte Volkslied „Am Brunnen vor dem Tore“ klingt wie eine alte Weise aus den Urzeiten unseres Brauchtums. Tatsächlich ist das Lied aber erst in der Zeit der Romantik - Anfang des 19.Jahrhunderts - entstanden.

Der Dichter Wilhelm Müller

Illustration
Gedichtbände nennen sich oftmals „Brunnen“

Die Idee, es könne sich um ein Stück alten Brauchtums handeln, liegt nahe, denn der Brunnen war von alters her in Literatur und Märchen ein häufig verwendetes vielschichtiges Symbol. So wurde es wohl auch von Wilhelm Müller in seinem Gedicht verwendet. Müller war ein deutscher Lyriker, der von 1794 bis 1827 in Dessau lebte und dem damaligen Kreis romantischer schwäbischer Dichter nahe stand. „Am Brunnen vor dem Tore“ hatte er für seinen Gedicht-Zyklus „Die Winterreise“ verfasst. Dort beschrieb der Gymnasiallehrer in 24 Gedichten die winterliche Reise eines Wanderers, der nach einem traurigen Liebeserlebnis seine Heimat verlassen hatte und ohne Ziel und Hoffnung hinaus zog. Der Brunnen unter dem Lindenbaum war für diesen Wanderer ein Ort der Geborgenheit, nach dem er sich zurücksehnte. Der Zyklus ist eine lose Folge von Gedichten. Er hat keinen durchlaufenden Handlungsstrang, doch die Stimmungen und Gefühlsregungen des Reisenden kann der Leser gut nachempfinden.

Romantische Dichtkunst
Die Darstellung von Gefühlen und Empfindungen des Menschen - auch in der Natur -  war ein besonderes Anliegen der Dichter in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts. Sie betrieben jedoch keine romantische Gefühlsduselei, sondern bildeten eine bewusste Gegenbewegung zur vorausgegangenen vernunftbetonten Periode der Aufklärung, aber auch zur glatten Ästhetik der Klassik. In der Zeit der Romantik zeigte der Mensch wieder Gefühle und besann sich auf seine Beziehung zur Natur sowie auf seine eigenen Wurzeln, etwa auf die alten Germanen oder das mittelalterliche Rittertum. Auch alte Bräuche fanden ebenso wie Volksmärchen und Volksweisen wieder großes Interesse. Man denke nur an „Grimms Märchen“ oder „Des Knaben Wunderhorn“. Zur Pflege des Brauchtums entstanden bürgerliche Vereine. In dieser Zeit gründeten sich zum Beispiel viele Männergesangvereine.

Romantische Musik
Die Komponisten der Romantik verfolgten ähnliche Ideen wie ihre dichtenden Kollegen. Sie wollten in ihrer Tonsprache nicht mehr nur der Schönheit der klassischen Musik dienen, sondern ihre Gefühle und Empfindungen ausdrücken. Sie betonten den gefühlvollen Ausdruck, lösten vielfach die klassischen Formen auf und erweiterten die traditionelle Harmonik. Sie benutzten gerne literarische Vorlagen für ihre Programmmusiken und erweiterten den Instrumentenpool ihrer Orchester immer mehr, um eindrucksvollere Effekte zu erzielen. Andererseits nahmen sie auch Elemente schlichter Volksmusik in ihre Tondichtungen auf und pflegten mehr als bisher die Gattung des Kunstliedes, wozu sie genügend Stoff in der zeitgenössischen Lyrik fanden. Wegbereiter der romantischen Musik waren unter anderem Beethoven, Schubert und Schumann, die in der Musikgeschichte als „Frühromantiker“ gelten.

Franz Schuberts Kunstlied
Franz Schubert lebte von1797 bis 1828 in Wien. Er hat trotz seines kurzen Lebens ein beachtliches kompositorisches Werk hinterlassen. Er vertonte über 600 Gedichte und schuf etliche Lieder-Zyklen. Darunter war auch der Zyklus „Die Winterreise“ von Wilhelm Müller, der das Gedicht „Am Brunnen vor dem Tore“ enthält. Die Komposition entstand zwischen 1827 und 1828, ist also eine von Schuberts letzten Arbeiten. Der Komponist selbst bezeichnete sein Werk als einen "Zyklus schauerlicher Lieder". Er schrieb es für eine hohe Männerstimme und Klavier. Das Klavier setzte Schubert aber auf eine damals neue Art ein, mit eigenen Motiven, Begleitformen und übergreifenden Bezügen. Für die Singstimme fand Schubert eine anrührende Melodie. Er komponierte ein „variiertes Strophenlied“. Durch den Wechsel zwischen Dur- und Molltonlage verstärkte er die Dramatik des Textes. Viele bedeutende Sänger - aber auch Sängerinnen - nahmen dieses Kunstlied in ihr Repertoire auf.

Kunstlied und Volkslied
Der Unterschied zwischen einem Kunstlied und einem Volkslied besteht unter anderem darin, dass man den Komponisten des Kunstliedes kennt, das Volkslied hingegen aus der Tradition kommt und in der Regel ohne Autor existiert. Charakteristisch für Kunstlieder ist die Vertonung von Lyrik. Die stimmlichen und musikalischen Anforderungen an die Interpreten sind deutlich höher, deshalb werden Kunstlieder meist von ausgebildeten Sängern und Instrumentalisten vorgetragen. Begleitinstrument ist meist das Klavier. Es steht oft gleichwertig neben der Singstimme. Seltener kommt es vor, dass Kunstlied und Volkslied ineinander übergehen. Mit Franz Schuberts Lied ist das passiert. Das daraus entstandene Volkslied „Am Brunnen vor dem Tore“ hat sogar einen deutlich höheren Bekanntheitsgrad. Arrangeur des Volksliedes war der Tübinger Musikpädagoge Friedrich Silcher.

Silchers Chorlieder
Friedrich Silcher lebte von 1789 bis 1860. Er war Musikdirektor an der Universität Tübingen und ein großer Förderer des Chorgesanges sowie der neuen Sängerbewegung. Silcher selbst gründete 1829 die „Tübinger Akademische Liedertafel“ und leitete deren Chor bis zu seinem Tod. In den Anfangszeiten gab es für Männerchöre aber nicht genug Literatur. Deshalb arrangierte Silcher selbst zahlreiche Chorsätze von deutschen und internationalen Liedern, brachte sie mit seinem Gesangverein zu Gehör und ließ Liederbücher veröffentlichen, die große Verbreitung fanden. Viele seiner Lieder wurden in den folgenden Generationen Allgemeingut. Sie gehören heute noch zum Grundrepertoire vieler Chöre. Silcher komponierte auch selbst, zum Beispiel vertonte er das bekannte Loreley-Gedicht von Heinrich Heine.

Das Volkslied
Silcher arrangierte aus Schuberts Kunstlied vom Lindenbaum einen Chorsatz für vier Stimmen a capella. Er setzte die erste Strophe des Liedes in eine einfachere Männerchorfassung um und benutzte diese für alle weiteren Strophen des Müllerschen Textes. So entstand die volkstümliche Fassung mit dem Titel „Am Brunnen vor dem Tore“, die schnell einen enormen Bekanntheitsgrad erreichte, auch deshalb, weil sie in vielen Schul- und Chorliederbüchern abgedruckt wurde, oft mit dem Hinweis: „
Nach Franz Schubert zu einer Volksmelodie umgearbeitet“.
Wohlmeinende Kritiker lobten,
dass Silcher aus den drei variierten Strophen Schuberts die „Urmelodie herausdestilliert“ habe. Andere übten wegen der „töricht anmutenden Selbstverständlichkeit“, mit der er die Liedstrophe „fast wie ein Bild aus der Schubertschen Komposition herauslöste“, harsche Kritik. Aber das hat den Siegeszug von Silchers Chorsatz nicht aufgehalten, und ein Copyright im heutigen Sinne gab es damals ja noch nicht.


Interpreten
Aber auch Schuberts Kunstlieder errangen internationale Anerkennung. Sie wurden so bekannt, dass man das deutsche Wort „Lied“ in andere Sprachen übernommen hat (französisch: „le lied“, englisch: the lied). Damit wird in den anderen Sprachräumen speziell das Kunstlied bezeichnet. Interpretationen des Kunstliedes kann man auch im Internet hören. In der Linkliste verweisen wir auf Darbietungen von Hermann Prey und Dietrich Fischer-Dieskau.
Zu der Silcherschen Fassung könnten wir auf eine große Zahl von Interpreten verweisen, auch auf noch weitergehende freie Umstrukturierungen der ursprünglichen Komposition. Vielleicht ist es einmal ganz vergnüglich, sich einige Versionen anzuhören. Wir haben eine kleine Auswahl angefügt. Aber Vorsicht, „Am Brunnen vor dem Tore“ wird leicht zum „Ohrwurm“.

Links für einen Spaziergang durch You Tube:

Hermann Prey

Dietrich Fischer-Dieskau,

Männerchor DIE MEISTERSINGER nach Silcher,

HLG Choir England 2006 nach Silcher,

Nana Mouskouri freie Überarbeitung nach Silcher,

Richard Tauber, Filmmusik nach Silcher,

Helmut Lotti, freie Umstrukturierung,

Comedian Harmonists, nach Silcher

 
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