Weben

                                     von Roswitha Ludwig

Zu den großen Erfindungen der Menschheit zählt die Herstellung von Geweben aus verschiedenen Materialien. Einige Entwicklungsstufen, bezogen auf die süddeutsche Region sollen im Folgenden herausgegriffen  werden.  

Gewebe sind uns nah
Hautnah sind uns die Gewebe, die wir auf dem Körper tragen, Rohstoffe dafür sind pflanzliche Fasern und Wolle. Synthetische Produkte bleiben hier unberücksichtigt. Textiles verwendet man seit Jahrtausenden für die Kleidung, für die Ausstattung der Wohnungen vom Bettlaken bis zur Stofftapete, also vom dringend Notwendigen bis zum Luxuriösen. Pferdedecken zeigen, dass es auch einen Bedarf für Tiere gab. Vo
rräte, beispielsweise Getreide und Produkte daraus, kann man in Säcken transportieren und lagern.
Die selbst versorgende Hausgemeinschaft erzeugte Textilien von der Aussaat bis zum Gebrauchsgut. Das tierische Produkt Wolle konnte man durch Schafzucht gewinnen und weiterverarbeiten. Gerade die Verarbeitung war meistens Frauenarbeit. Ein Vers aus dem Bauernkrieg 1520-1525 belegt nicht nur Sozialkritik sondern auch Rollenzuweisung von Mann und Frau wie sie das Mittelalter seit Urzeiten als gegeben ansah: „Als Adam grub und Eva spann, wo war denn da der Edelmann?".

Das Ausgangsprodukt
Landwirtschaft und Weberei ergänzen sich bestens. Nach der Ernte begann die Verarbeitung beim Lein mit dem Entfernen der Samen (riffeln), die Stängel müssen brüchig gemacht und gelöst werden, ohne die Fasern innen zu schädigen. Diese Arbeiten wurden so benannt: rösten, brechen, schwingen, hecheln. Geschlungene Stränge, an die das Gebäck Flachswickel noch erinnert, sind dann für die textile Weiterverarbeitung bereit. Sie konnten nach dem Waschen gebleicht oder gefärbt werden.

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Verarbeitung der Fasern; Stadtmuseum Sindelfingen


Das Spinnen zu langen gleichmäßigen Fäden war Frauendomäne mit der Handspindel und später mit dem Spinnrad, das die Spule bewegte. Spinnstuben mit schnurrenden Rädchen zu erzählten Geschichten werden in der Literatur reichlich beschrieben. Auch die Verarbeitung von Rohwolle führte zum Spinnen langer Fäden, wie es nach 1945 auf dem Land wieder praktiziert wurde.

Gewebe Grundprinzip
Beim Stopfen eines Loches wendet man die Leinenbindung an. Die Fäden werden über das Loch gespannt (Kette), mit der Nadel wird Faden um Faden versetzt aufgenommen (Schuss). Die Abfolge wechselt in der folgenden Reihe. Wenn die Längsfäden gespannt werden sollen, ist ein Stopfei hilfreich, denn es hält sie straff. Die Steinzeitweberin hängte ihre Kettfäden über einen Baum oder Balken und gewann die Spannung, indem sie Lochsteine ans Ende band. Nun hatte sie zwei Hände frei, um den Schussfaden einzuziehen. Fest wurde das Gewebe, wenn es gelang, die Fäden dicht zusammen zu schieben. Hilfsmittel dafür waren später Webschwert oder Kamm.
Die Länge des Textils wird durch die Kette bestimmt, die Breite durch die Zahl der Fäden und deren Abstand. Nichts soll reißen. Jede Ausbesserung kostet Zeit und wirkt als Webfehler.

Vom Webrahmen zum Webstuhl
Kann der Kett- und Warenbaum gedreht werden, gelingt es, größere Längen herzustellen. Beim Weben lassen sich die Kettfäden ab- und das Gewebe aufrollen.  Erhalten werden muss die Spannung, die die Stoffdichte mitbestimmt, Wichtig ist es auch, dass der Schussfaden gleichmäßig eingezogen und angeschlagen wird, sonst verändert der Stoff seine Breite. Für das Einbringen dünnerer Querfäden gibt es Schiffchen mit eingelegter Spule.
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Webstuhl Museum Sindelfingen

Die Kette muss besonders viel Spannung aushalten, reißfest sein. Baumwolle für die Kette und Leinen für den Schuss, liefert robustes Halbleinengewebe.
Beim Trittwebstuhl arbeiten die Beine mit. Die so genannten „Schemel" sind mit den Schäften verbunden, zwischen denen sich die Kettfäden spannen. Die Musterplanung legt fest, welche Fächer für das Schiffchen geöffnet wurden. Beim Weben verbinden sich Körperbewegung und rhythmisches Geräusch des Webstuhls im Dreischritt: Fachbildung - Schusseintrag - Fadenanschlag.

Das Weberhandwerk
Verstädterung und Handel führten zur Arbeitsteilung und zum Entstehen von Berufen, die sich in Zünften organisierten. Bei den Webern gab es im Mittelalter Wollweber und Leinenweber. Die reichen Fernhandelskaufleute und Händler organisierten das Geschäft. Man benötigte Rohstoffe wie Baumwolle und handelte mit gewünschten Textilien, zum Beispiel Seide
Produziert wurde oft im so genannten Verlagssystem. Den Webern legten die Beauftragten der reichen Tucher Material vor. Gewünschtes Tuch wurde nach Vorgaben gefertigt, wie auf Handelsmessen bestellt.
Am Ende der Kette standen die armen Hausweber, denen Preis und Lohn diktiert wurde. Entflohne Leibeigene, die in den Städten ein Jahr unerkannt bleiben mussten, um dann frei zu sein, konnten oft weben. Sie arbeiteten für jeden Preis. Weber standen in keinem hohen Ansehen.
Den größten Einbruch brachte die Industrialisierung: Die Spinnmaschinen und die Machinenweberei machten viele Weber brotlos oder zwangen sie in die Fabriken oder zum Auswandern.

Ein Aussteuerhemd Hochzeitsjahr 1875

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Hemd der Urgroßmutter


Zwei Wäschestücke sollen die Umbruchssituation am Produkt zeigen. Das eine ist ein leinenes Aussteuerhemd meiner Urgroßmutter, Hochzeitsjahr 1875. Gelebt haben meine Urgroßeltern im heutigen Kreis Heilbronn. Damals hieß der Ort noch Berwangen. Man könnte von gehobenen bäuerlichen Verhältnissen sprechen. Mein Urgroßvater war Landwirt, Pächter eines gräflichen Gutes und einige Jahre Bürgermeister des Dorfes. Ob das sehr derbe Hemd getragen wurde, weiß ich nicht. Jedenfalls wirkt es nicht abgetragen. Vermutlich stammt der Stoff nicht aus eigener Hausweberei, aber vielleicht von einem Webstuhl in der Umgebung.
Der Leinenstoff ist schwer, das Hemd mit dreiviertellangen Ärmeln wiegt 450 g. Die Stoffbahnen sind nur 70 cm breit, Alle Nähte wurden so angelegt, dass keine Stoffkante außen sichtbar ist. Eine Zackenlitze schmückt den viereckigen Halsausschnitt. In rotem Kreuzstich ist das Monogramm des Mädchennamens SV aufgestickt und Nr. 23. Die Aussteuerstücke wurden wohl nummeriert.

Ein Aussteuerhemd Hochzeitsjahr 1911
Das zweite Hemd stammt von der Tochter des Ehepaares, also meiner Großmutter, die in diesem Dorf ebenfalls in ähnlichem Milieu gelebt hat. Dieses Hemd unterscheidet sich so krass von dem erstgenannten, dass es wie ein Epochenwandel anmutet.

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Hemd der Großmutter


Es besteht aus recht fein gewebtem Baumwollstoff, der in größerer Breite vorlag und wiegt ungefähr die Hälfte, allerdings ist es kurzärmlig. Außerdem zeigt es eine aufwändige schmückende Bearbeitung: Gesticktes Monogramm, Bortenbesatz und Falten.
Meine Großmutter besuchte in Karlsruhe eine Frauenschule. Ihre ganze Aussteuer ist mit sehr individuellen Handarbeiten geschmückt.
Also nach circa 35 Jahren verwendete man in annähernd gleichem Lebensmilieu statt Leinen Baumwolle, ich denke aus Fabrikfertigung. Tragekomfort, Mode mit individueller Gestaltung scheint wichtig geworden zu sein. Ich sehe nicht nur meine Großmutter am Nähtischchen vor mir sitzen sondern stelle mir auch vor, wieviel Hauswebstühle inzwischen leer blieben.

Auf Spurensuche in Sindelfingen
Für die Geschichte der Textilindustrie ist Sindelfingen der richtige Ort in meiner Nähe. Tatsächlich gibt es noch einen produzierenden Betrieb: Zweigart und Sawitzki mit circa 125 Beschäftigen. Als Gründungsjahr am Ort wird 1877 angegeben.

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Fabrik Zweigart um 1900 nach Zeichnung genehmigt


Heute werden vor allem Handarbeitsstoffe, Tisch- und Bettwäsche produziert. Noch zwei weitere Erfolgsunternehmen dieser Art gab es um 1900.
1890 sind in Sindelfingen 340 selbständige Handweber eingetragen, 1905 noch 50. Wie in Württemberg allgemein, so begann die Industrialisierung im Textilgewerbe später. Wenn man bedenkt, dass die Zünfte - und so auch die der Leinenweber - in Württemberg erst 1862 abgeschafft wurden, so kann man ahnen, welch große Umbrüche sich in ungefähr zwei Generationen vollzogen haben. Und in diese Zeit fallen meine Vergleichshemden.

Hochwertige Textilproduktion

Sindelfingen selber galt um die Jahrhundertwende als namhafte Adresse besonderer Textilproduktion. Erwähnt sei die Jacquardweberei. Die Technik wurde von einem Franzosen Jacquard 1810 bei Lyon entwickelt. Vorbild waren die gestickten Gobelins.

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Jacquardmuster


Die entworfenen Muster werden auf Lochkarten übertragen. Jeder Musterschuss bekommt hier sein Bild. Die Karte gibt den Plan für das Heben und Senken der Kettfäden, das Heben geschieht mit Haken, Platinen genannt. So gelang es, eingewebte Muster herzustellen. Die Jacquardmaschine mit ihren Lochkarten stellt eine Art Bindeglied von der Handweberei zur mechanischen dar. Gerade Tischwäsche bemusterte man nach dieser Technik. Nur gut ausgebildete Weber konnten diese anspruchsvollen Entwicklungen mitmachen.

Die Webschule
ist heute das Haus der Handweberei in Sindelfingen. Wer Nachforschungen betreibt, wird hier fündig. Das Gebäude trägt die Jahreszahl 1900 über der Eingangstüre; es wurde als Webschule erbaut. Der Unterricht für die Weber sollte nach der Gründung einer Schule 1868 in einem eigenen Gebäude stattfinden. Heute ist die frühere Webschule Museum und Lehrstätte.

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Haus der Handweberei gen.


Webstühle, Webarbeiten und Muster veranschaulichen die Geschichte. Tafeln informieren über die Entwicklung und auch die bedrückende Situation vieler Weber. Stellvertretend für die Weberlieder in der Literatur sei hier aus einem Gedicht zitiert, das im Böblinger Boten 1851 abgedruckt war. Der Nachtwächter macht seine Runde und sieht noch das Licht in einem Weberhaus.
....
Ein armer Weber sitzt darin
in kalter Grub` am Stuhle,
Bei trübem Licht, mit trüb`rem Sinn,
Abschwirrend Spuhl`um Spuhle
Ob warm sie ringsum träumen nun,
 Der arme Weber darf nicht ruh`n"....

Weben heute
Wer weben möchte, als Hobby oder Handwerk, kann in der Webschule Kurse buchen und diese kreative Gestaltungsmöglichkeit erlernen. Wer schon an einem Webstuhl saß, sieht Stoffe anders, erlebt sich gestalterisch und schöpferisch, kann auch heilsame therapeutische Wirkung verspüren.

Links:
Entwicklung - archäologisches Lexikon:

Geschichte der Weberei

Zu Sindelfingen und seine Webereigeschichte

Zeitreise Webereigeschichte

Schulprojekt GS Michelbach; beachtenswerte Arbeit zur Flachsverarbeitung.

Firma Zweigart & Sawitzki (Betriebsbesichtigungen möglich)


Haus der Handweberei

 
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