von Lore Wagener
Eine der Definitionen für den Kulturraum Europa beschreibt diesen als das Territorium der antiken griechisch-römischen Zivilisation. Das ist zwar nicht ganz genau, doch ist richtig, dass diese Zivilisationen zu den Eckpfeilern unseres Kulturraums zählen.
Die Bewahrung des antiken Erbes
Sowohl die „alten Griechen" als auch die Römer gehören zu unserem Kulturerbe. Ein Teil der historischen griechischen Literatur und die theoretischen Schriften zu Literatur und Rhetorik sind schon im antiken Rom ins Lateinische übersetzt worden.
Vulgata
Unser christliches Kulturerbe wurde ebenso im antiken Rom bewahrt. Der heilige Hieronymus hat dort um 400 n. Chr. die Bibel aus griechischen Texten ins Lateinische übersetzt, später übertrug er sie noch einmal aus dem Hebräischen ins Lateinische. Seine lateinische Bibel, die Vulgata, war lange maßgeblich für die katholische Kirche. Die wissenschaftlichen Texte der alten Griechen sind uns dagegen erhalten geblieben, weil arabische Gelehrte sie vom Griechischen ins Arabische übersetzt und gepflegt haben. So konnten sie später ins Altspanische und letztlich in die europäische Kultursprache Latein übersetzt und im gebildeten Europa bekannt werden.
Der Beitrag der Araber
Roman Herzog, unser siebter Bundespräsident, würdigte den letzteren Prozess einmal so: „....für mich (ist) die Übersetzerschule von Toledo ein beeindruckendes Beispiel. Nicht nur, dass damals Muslime, Juden und Christen friedlich zusammenleben konnten. Ihre gemeinsame Arbeit hat der europäischen Geistesgeschichte große Schätze zugänglich gemacht, darunter die Schriften von Aristoteles, die sonst wahrscheinlich verloren gewesen wären."
Um Roman Herzog zu verstehen, müssen wir auf den Begründer des Islam zurückgehen, der von etwa 570 bis 632 n. Chr. lebte und sich durch seine Visionen zum Propheten berufen fühlte. Sein Wechsel von Mekka nach Medina im Jahre 622 gilt als Geburtsstunde des Islam. Der Prophet Mohammed verknüpfte in seiner Lehre religiöse und politische Gedanken und herrschte vor seinem Tod als monarchischer Stellvertreter Gottes in seiner Gemeinde. Sein Ziel war ein Weltreich mit einer religiösen islamischen Oberschicht.
Das maurische Spanien
Spanien um 910 n. Chr.; CC Verfasser Serg!o
Die Nachfolger des Propheten, die Kalifen, übernahmen dessen Ideen. Ihre Araber- und Berberkrieger eroberten sehr rasch den nordafrikanischen Mittelmeerraum. Um 722 n. Chr. nahmen sie den Westgoten die iberische Halbinsel ab und bedrohten 732 das Frankenreich. Hier wurde dessen Hausmeier Karl Martell zum Retter des Abendlandes, als er die Araber in der Schlacht bei Tours und Poitiers besiegte. Spanien blieb aber lange Zeit maurisch. Das maurische Emirat von Córdoba bestand von 756 bis 929 n. Chr., das gleichnamige Kalifat von 929 bis 1031, danach gab es kleinere arabische Gruppierungen. Die letzte maurische Bastion existierte bis 1492 in Granada.
Da die Herrscher von Córdoba die Angehörigen aller Religionen nach ihrer Fasson selig werden ließen, lebten dort Muslime, Juden und Christen nebeneinander. Die Nicht-Muslime zahlten allerdings höhere Steuern.
Das Haus der Weisheit in Bagdad
Nachdem die Nachfolger des Propheten sich in ihren Eroberungen machtpolitisch konsolidiert hatten, begann das Kalifat von Bagdad, Wissenschaft und Kultur zu fördern. Sein Ziel war es, die Schriften der vergangenen Hochkulturen zu bewahren und nutzbar zu machen. Dazu brauchte man vor allem Übersetzungen in die arabische Hochsprache, die sich in den islamischen Gebieten zu einer wissenschaftlichen Universalsprache entwickelt hatte. In der sogenannten Übersetzerschule von Bagdad wirkten Wissenschaftler und Sprachkundige aus allen Religionen und aus allen möglichen Völkern mit. Sie wurden hervorragend bezahlt, waren hoch angesehen und hoben wirklich ein „Weltkulturerbe", das sonst in den Zeitläuften vermutlich verloren gegangen wäre. Etwa zwischen 800 und 950 n. Chr. wurden zum Bespiel die griechischen Schriften von Hippokrates, Euklid, Archimedes oder Ptolemäus ins Arabische übertragen. Ebenso übersetzte man aus dem Altpersischen oder dem Sanskrit.
Die Wissenschaftler von al-Andalus
Das maurische Spanien war für die Entwicklung europäischer Kultur von großer Bedeutung. Dort wurden die antiken Traditionen, besonders die Texte der griechischen Philosophie und Wissenschaft, von arabischen Denkern und Forschern, die zum Teil sogar aus Andalusien stammten, eigenständig weiterentwickelt. „Außerdem war al-Andalus der Ort, wo die Essenz des arabischen Denkens an das christliche Abendland weitergegeben wurde, zunächst auf Lateinisch, später dann auch auf Spanisch". (Zitat des Züricher Philologen Bossong). Das lässt sich an Beispielen für viele Zweige der Wissenschaft belegen, für Mathematik und Geometrie, Astronomie, Astrologie, Biologie oder Agronomie ebenso wie für die Geographie und die Philosophie. Georg Bossong schrieb auch: „An der Entfaltung der Philosophie in al-Andalus waren Juden ebenso beteiligt wie Muslime, beide gehörten derselben Kultur an. Die andalusische Geistesblüte ist im Miteinander gewachsen, nicht im Gegeneinander".
Die Reconquista
Im Norden der iberischen Halbinsel hielten sich einige kleinere Königreiche als christliche Bastionen, die immer wieder um die Rückeroberung der iberischen Halbinsel kämpften. Eine christliche Rebellion gegen die muslimische Herrschaft in Asturien, die 718 begann, wurde zum Ausgangspunkt. Im Laufe der Reconquista erstarkten die christlichen Königreiche Kastilien-Léon, Aragon und Portugal. Als die Blütezeit von Córdoba endete und es in kleinere arabische Reiche zerfiel, war die Reconquista wachsam. Mit der Rückeroberung der alten Königsstadt Toledo im Jahre 1085 errang sie einen wichtigen Etappensieg. Toledo gehörte nun zu Kastilien.
Die erste Übersetzerschule von Toledo.
In der maurischen Zeit war Toledo eine Stadt mit einer sehr bedeutenden christlichen Minderheit gewesen. In der nun wieder christlichen Stadt wurde der Bischof Raimund von Osma nun Erzbischof von Toledo. Er war ein Förderer der Wissenschaften. So ist es seiner Initiative zu verdanken, dass Toledo zu jenem internationalen Zentrum der Gelehrsamkeit wurde, das wir heute als „Übersetzerschule von Toledo" bezeichnen. Hier wurden viele der zuvor ins Arabische transferierten Texte ins Lateinische übersetzt, darunter auch die Texte von Aristoteles. Als Übersetzer wirkten Gelehrte aus ganz Europa mit, die vom Bistum finanziell abgesichert wurden. Die Gelehrten arbeiteten oft im Team. Ein Kenner des Arabischen übersetzte mündlich in die romanische Umgangssprache, ein christlicher Kleriker übertrug dies dann in seine lateinische Schriftsprache. So blieben die Texte authentisch.
Die zweite Übersetzerschule von Toledo
Alfons (der Weise) von Kastilien
1212 vertrieb ein Bündnis der christlichen Könige die Mauren aus Zentralspanien.
Damit wurde Kastilien zur größten Macht auf der Halbinsel. Dem Abendland stand nun die riesige Bibliothek von Córdoba zur Verfügung, die etwa 500 000 Bände umfasst haben soll und ein Hort der arabisch-griechischen Wissenschaft war.
Alfons X. von Kastilien, der von 1221 bis 1284 lebte, war ein Herrscher, der dies verantwortungsvoll nutzte. Er machte Toledo wiederum zu einem Zentrum der Wissenschaft, das heute als zweite Übersetzerschule von Toledo gilt. Alfons war aber sehr nationalstolz, und so war nicht mehr das Lateinische, sondern das Altspanische die wissenschaftliche Zielsprache. Das Interesse des Monarchen galt weniger der Philosophie, sondern mehr den Wissenschaften, besonders der Astronomie. Nach ihm soll sogar ein Mondkrater benannt sein.
Der Umgang mit dem Erbe
Die in Spanien übersetzten Texte gelangten in die europäischen Klöster, Universitäten und Gelehrtenstuben. Historiker schrieben ihnen einen nicht unerheblichen Einfluss auf das christliche Abendland an der Schwelle zur Renaissance zu. Die europäische Elite kannte zudem die übersetzten Texte der bedeutenderen arabischen Denker, zum Beispiel die Werke des Philosophen und Mediziners Averroes, der später von Dante in der göttlichen Komödie erwähnt und von Rafael in seinem Gemälde „Schule von Athen" im Vatikan porträtiert ist. Doch erst ab etwa 1455, als sich die Buchdrucktechnik Gutenbergs in Europa ausbreitete, wurden die Übersetzungen weiteren Kreisen bekannt.
Links
Das Erbe von al Andalus
Prof. Dr. Georg Bossong: Das Maurische Spanien; Geschichte und Kultur
Leseprobe daraus
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Die übrigen Bilder sind gemeinfrei.
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