Literatur um 1945 in Europa
                                     von Lore Wagener
Während des zweiten Weltkriegs haben sich die Nationalstaaten Europas gegenseitig grausam beschädigt. 1945 lag die Mitte Europas real und kulturell in Trümmern, ein friedliches oder gar vereintes Europa war damals eine Utopie.

Die Bilanz des 2. Weltkriegs
1945 hungerten die Überlebenden und beklagten ihre Toten und Vermissten. Deren Zahl konnte man bis heute nicht exakt ermitteln. Insgesamt soll der Krieg weltweit etwa 49,5 Millionen Tote gefordert haben, darunter 19 Millionen Sowjetbürger. Im ehemaligen Deutschen Reich gab es fast 7 Millionen tote Soldaten und Zivilisten, aber auch in Bulgarien, Italien, Frankreich und anderen Staaten war die Zahl der Opfer hoch. Darüber hinaus ermordeten die deutschen Nationalsozialisten in ihrem Rassenwahn etwa 6,3 Millionen Juden in den von ihnen beherrschten Gebieten. Das Grauen war unbeschreiblich, kaum aufzuarbeiten. Es gibt einen Ausspruch von Theodor W. Adorno, dem deutschen Philosophen und Soziologen, der oft zitiert wird: „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frisst auch die Erkenntnis an, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben." - Dennoch haben sich einige betroffene Dichter an diese Aufgabe gewagt.

Die Todesfuge
Paul Celan, der deutschsprachige Dichter aus Rumänien, der aus einer dort lebenden jüdischen Familie stammte, war ein Betroffener. Nach dem Einmarsch deutscher Truppen in seine Heimatstadt wurde er zur Zwangsarbeit rekrutiert. Auch seine Eltern mussten ins Arbeitslager und kamen dort ums Leben. Seine grauenhafte Situation verarbeitete Celan in seiner berühmten „Todesfuge". Hier ein Auszug:
„Schwarze Milch der Frühe,
wir trinken dich nachts
wir trinken dich morgens und mittags
wir trinken dich abends
wir trinken und trinken.
Ein Mann wohnt im Haus
der spielt mit den Schlangen, der schreibt
der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland
dein goldenes Haar Margarete.
Dein aschenes Haar Sulamith.
Wir schaufeln ein Grab in den Lüften,
da liegt man nicht eng".

Der Turiner Kreis
Auch in Italien hinterließ der Faschismus seine Spuren. Der Turiner Verlag Einaudi ging schon früh in Opposition. Seine Autoren fanden im italienischen Neorealismus ihre Antwort auf den Faschismus und waren deshalb der Verfolgung, Verbannung und Verhaftung ausgesetzt. Der Autor Leone Ginzburg wurde sogar 1944 von der deutschen SS zu Tode gefoltert. Nach 1945 errang der italienische Neorealismus besonders in der Filmkunst Weltgeltung, aber auch in der Literatur, mit Schriftstellern wie Cesare Pavese, Natalie Ginzburg oder Elio Vittorini.
Cesare Pavese schrieb:
„Der Tod wird kommen und deine Augen haben.
Das wird sein wie das Ablegen eines Lasters,
wie wenn man ein totes Gesicht
wieder auftauchen sieht im Spiegel,
oder auf eine verschlossene Lippe horcht.
Wir werden stumm in den Strudel steigen. "
(deutsche Nachdichtung: Oswalt von Nostitz)

Kahlschlag-Literatur
Die deutsche Literatur hatte durch die „völkischen" Bestrebungen und die schwülstige Propaganda der Nationalsozialisten ihren Weltrang verloren. Die namhaften Schriftsteller, auch die der Avantgarde, gingen ins Exil. Nach 1945 begann dann in Deutschland die Aufarbeitung unter anderem mit der „Trümmer-" oder „Kahlschlagliteratur". Die Kahlschlag-Autoren waren meist junge Männer, die in Kriegsgefangenschaft gewesen waren und dort Literatur der Moderne kennen gelernt hatten. Sie wollten ihre Erfahrungen aufarbeiten, die sie mit Krieg, Entmenschlichung und Zusammenbruch gemacht hatten. Dabei legten sie Wert auf Wahrheit, einfache Sprache und den Verzicht auf ästhetische Ausformung.
Günter Eich schrieb schon in der Kriegsgefangenschaft sein Gedicht „Inventur":
„Dies ist meine Mütze,
dies ist mein Mantel,
hier mein Rasierzeug
im Beutel aus Leinen.
Konservenbüchse:
Mein Teller, mein Becher,
ich hab in das Weißblech
den Namen geritzt."

Die Gruppe 47
In den amerikanischen Lagern hatte man für die deutschen Kriegsgefangenen Zeitschriften konzipiert, mit denen sie nach zwölf Jahren Nationalsozialismus „umerzogen" werden sollten. Bekannt wurde die Zeitschrift DER RUF, an der auch deutsche Gefangene mitwirkten. Als diese Leute heimkehrten, gründeten einige in München eine gleichnamige Zeitschrift und luden auch andere Autoren zu ihren Redaktionssitzungen ein. Nachdem ihr Blatt jedoch zunehmend linkslastiger wurde, kam ein Verbot der Militärregierung. Nun wurden aus den Redaktionssitzungen die Tagungen der Gruppe 47. Zunächst hatten diese den Charakter einer Literaturwerkstatt, in der kollegiale Arbeitskritik geübt wurde. Mit zunehmender Bekanntheit entwickelte sich die Gruppe 47 zu einer wichtigen literarischen Institution, die erst 1967 zerfiel. Der Gruppe gehörten viele bekannte Autoren an, wie Heinrich Böll, Günter Grass oder Ingeborg Bachmann. Ihr langjähriger Koordinator war Hans Werner Richter.

Es könnte viel bedeuten
Ingeborg Bachmann, die österreichische Schriftstellerin, veröffentlichte am Anfang ihrer Karriere mehrere Gedichtbände. Für ihre erste Lyrik wurde sie 1953 mit dem Literaturpreis der Gruppe 47 ausgezeichnet. Sie beschäftigte sich in ihrem Werk vielfach mit der weiblichen Identität und mit menschlichen Beziehungen. Sie schrieb: „ich habe schon vorher darüber nachgedacht, wo fängt der Faschismus an. Er fängt nicht an mit den ersten Bomben, die geworfen werden,... Er fängt an in Beziehungen zwischen Menschen".
Hier ein Beispiel ihrer Lyrik:
„Es könnte viel bedeuten: wir vergehen,
wir kommen ungefragt und müssen weichen.
Doch dass wir sprechen und uns nicht verstehen
und keinen Augenblick des andern Hand erreichen,
zerschlägt so viel: wir werden nicht bestehen.
Schon den Versuch bedrohen fremde Zeichen,
und das Verlangen, tief uns anzusehen,
durchtrennt ein Kreuz, uns einsam auszustreichen."

„Der Mensch ist seine Existenz"
Besonders illusionslos schrieben die großen französischen Schriftsteller der Nachkriegszeit. Bei ihnen ist das vorwiegend auf ihre philosophische Richtung zurückzuführen, denn sie vertraten den französischen Existenzialismus, eine Geisteshaltung, die den Menschen nur als Existenz auffasst. Diese Existenz ist gekennzeichnet von der Ungeborgenheit des Menschen, seinem Ausgesetztsein in absoluter Freiheit und seiner absoluten Selbstverantwortung. Diese atheistische Existenz wird erfahren in einer „Grunderfahrung" oder im „existenziellen Erlebnis" Letzteres ist zum Beispiel bei Jean Paul Sartre der Ekel, bei Camus das Absurde. Beide thematisierten diese Grenzerlebnisse in aller Schärfe.
Im Frankreich der Nachkriegszeit finden sich darüber hinaus Elemente des Existenzialismus in anderen Bereichen, zum Beispiel in der bildenden Kunst, im Film, im Chanson und sogar in der Mode. Edith Piaf sang zum Beispiel auch Texte, die ihr Jean-Paul Sartre geschrieben hatte.

Der kleine Prinz
Aus der Darstellung existenzieller Grundsituationen entstand auch eine freundlichere Version. Das Märchen vom kleinen Prinzen des Fliegers und Dichters Antoine de Saint Exupéry erzählt von einem Piloten, der nach einer Panne in der Wüste notlandet und dort einen kleinen Jungen trifft, einen Prinzen von einem unbekannten Stern. Die Gespräche der beiden führen zu ungewöhnlichen Einsichten in den Weltzustand und die Charakterologie der Menschen. Der Autor verdeutlicht dies sogar mit Zeichnungen. Er zeigt unter anderem an ganz einfachen Beispielen, dass es verschiedene Sichtweisen von der Welt gibt. Wo die Erwachsenen in einer kindlichen Zeichnung nur einen Hut sehen, stellt sich der kleine Zeichner selbst eine Boa vor, die einen ganzen Elefanten verschluckt hat. So führt uns der Erzähler mit viel Poesie durch seine Weltsicht. „Man sieht nur mit dem Herzen gut" schreibt er. Seine Prosa zeigt eine freundlichere Welt. Vielleicht hat sie gerade deshalb Kultstatus erlangt.

Links

Die vollständigen Texte der vorgestellten Gedichte finden Sie hier:

Paul Celan, „Die Todesfuge"
 

Cesare avese, „Der Tod wird kommen" 

Günter Eich „Inventur"

Ingeborg Bachmann „Es könnte viel bedeuten"

Der kleine Prinz
 

 
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