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Realität und Weltsicht im Wandel
                                     von Roswitha Ludwig
In einem persönlichen Text erzähle ich von mir und vom Dorf meiner Kindheit, auf dessen Homepage heute zu lesen ist: „Kirchardt, wir leben Europa".

Prägungen in Berwangen
Die heutige Teilgemeinde Berwangen im Kreis Heilbronn in Baden Württemberg hatte in der Nachkriegszeit ca. 1000 Einwohner. Die Einwohner gehörten der evangelischen Konfession an, die Kirche steht mitten im Ort.

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Kirche in Berwangen

Natürlich besuchte man sonntags den Gottesdienst. Schon früh nahm mich meine Großmutter dorthin mit. Es fiel mir nicht immer leicht, während der langen Predigt in dem meist sehr kühlen Kirchenraum still zu sitzen. Auch den etwas kürzeren Kindergottesdienst besuchte ich. Mit Strichliste wurde die Anwesenheit kontrolliert. Im Religionsunterricht lernten wir viel auswendig: Lieder, Gebete, Psalmen und den kleinen Katechismus, das teilte ich mit vielen Kindern damals.

Katholiken in Berwangen
Von einer Familie abgesehen, gehörten die Flüchtlinge dieser Konfession an. Die Fremden waren sie, für die Platz gemacht werden musste. Sie nahmen Wohnraum weg und hängten sogar in den Wohnungen Kruzifixe auf. Am Reformationstag verrichteten manche für alle sichtbar Alltagsarbeit. Einige Evangelische waren dafür an Fronleichnam oder Allerheiligen nicht faul.
Natürlich kam man sich näher im Laufe der Zeit, aber Katholische galten als im Glauben Fehlgeleitete. Wenn gar ein junger Mann eine katholische Freundin hatte, gefährdete eine mögliche Heirat den Familienfrieden. Wurde gefragt: „Was ist sie denn?", hatte man damals eher die Konfession und nicht den Beruf im Blick. Stimmte sie überein, so konnte dieser wichtige Punkt als empfehlend abgehakt werden.

Ganz andere Strukturen
Mit 13 Jahren änderte sich meine Umgebung grundlegend, denn ich besuchte eine staatliche Internatsschule. Die Stadt in Südbaden hatte natürlich mehrere Kirchen, evangelische und katholische. Aufgewachsen in der Struktur Flüchtlinge sind katholisch und die Angestammten evangelisch, fand ich mich nun unter Mädchen, die genau die entgegengesetzten Erfahrungen in katholischen Dörfern gemacht hatten. Dort waren oft evangelische Flüchtlinge zugewiesen worden. So ganz verschieden geprägt und in einem Alter, in dem man Positionen sehr entschieden vertritt, erlebte ich das Neuland des Konfessionsdisputes, durchmischt von einigen Freigeistern.

Persönliche Wertschätzung
Schließlich freundete sich ein katholisches Mädchen mit mir an. Sie galt als eine der umschwärmtesten der Klasse, dazu genial begabt, aber in schwierigen familiären Verhältnissen lebend. Sie genoss es, die gefragte Freundin zu sein und dosierte wohl durchdacht ihre Gunst. - Wie glücklich war ich, dass auch ich eine Zeit lang zu den von ihr Bevorzugten zählte. Ganz gleichgültig war es mir, dass sie katholisch war.
Einmal besuchte ich mit ihr eine Maiandacht. Wie hingebungsvoll sang sie in der mit Maiengrün geschmückten Kirche: „Meerstern ich dich grüße, oh Maria hilf"! Lang blieben wir nicht befreundet, aber immerhin hatte ich so an einem besonderen katholischen Gottesdienst teilgenommen.
In unserer Klassengemeinschaft ebbten die doktrinären Positionsbekundungen bald ab, je länger wir uns kannten. Bei heutigen Klassentreffen erinnern wir uns schmunzelnd daran.

Konfirmation in Berwangen
Nach einem Jahr Internatszeit feierte ich meine Konfirmation in Berwangen, dafür gab es drei Tage Sonderurlaub.
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Konfirmanden 1959

Fünfzig Jahre später beschlossen wir sechs Konfirmanden von damals, die Goldene Konfirmation zu feiern. Das Fest sollte zusammen mit den katholischen Jahrgangskameraden begangen werden. Ein Mitschüler aus der Volksschule ist Priester geworden, er wirkte an dem Gottesdienst mit.
Und als uns der Ruhestandspfarrer der Gemeinde unsere Konfirmandensprüche erneut zusprach, empfand ich wieder einmal dankbar, dass mir der Glaube eine kostbare Begleitung durch die sich wandelnden Zeitläufte und für mein Leben schenkt.
Längst ist die Ökumene in den Kirchengemeinden angekommen. Von den Notjahren der Nachkriegszeit und den schwierigen Anfangszeiten erzählt man unbefangen.

Politische Veränderungen
Die Gemeindereform in den 70er Jahren führte zum Zusammenschluss von Kirchardt, Berwangen und Bockschaft.
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Ortsschild Berwangen

Der Bürgermeister grüßt auf der Homepage mit „Grüß Gott" und „Guten Tag". Im Grenzbereich von Baden und Württemberg liegt man damit richtig. Im einst badischen Berwangen ist der übliche Gruß „Guten Tag". Weil das nächste Dorf württembergisch war, galt hier: „Grüß Gott".
Mein Großvater konnte sich noch in Richtung Massenbachhausen an ein zerfallenes Schilderhäuschen erinnern. Das hatte einst der Grenzabfertigung zwischen Baden und Württemberg gedient. Einige Grenzsteine sind heute noch zu finden.
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Grenzstein Landesgrenze

Der Südweststaat ist seit Jahrzehnten geschätzte Realität. Typisch badisch - typisch schwäbisch, das hört man noch immer, meist mit einem humorvollen Unterton.

Kirchengebäude in Kirchardt
Im Gemeindeverband gibt es natürlich nicht nur die eine Kirche im Dorf. Die evangelischen Gemeinden Berwangen und Kirchardt bilden inzwischen eine gemeinsame Pfarrei:
Die Ägidiuskirche in Kirchardt, 1962 erbaut, besuchen die Katholiken aller Teilgemeinden.
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Ägidiuskirche Kirchardt

Hinzugekommen ist eine etwas abseits gelegene Kirche mit Zwiebeltürmen. Es ist das Gotteshaus der syrisch-orthodoxen Christen. Ihre Anhänger kommen aus Syrien, der Türkei und dem Libanon. Sie verstehen sich als christliche Urkirche und verweisen auf die aramäische Sprache. Zu dieser Glaubensgruppe gehören 150 Familien in Kirchardt, vor allem sind es Christen aus der Türkei.
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Syrisch orthodoxe Kirche
 

Gemeinsamer Gottesdienst
Wertschätzendes Zusammenleben muss entwickelt und praktiziert werden.
Von einem Arbeitskreis Brückenbau wurde im März 2010 ein Tag der offenen Kirchen veranstaltet. Mitgewirkt haben evangelische, katholische, evangelisch-freikirchliche und syrisch-orthodoxe Gemeindeglieder. In einem Bericht heißt es: „Als Flüchtlinge gekleidete Kirchardter aus aller Herren Länder ziehen bei einem ökumenischen Gottesdienst durch die Festhalle auf die Bühne."

Kofferprojekt
Die Gemeinde informiert auf ihrer Homepage über ein Bildungs- und Integrationsprojekt: „Chancengleichheit - Bildung durch Integration". Ein wichtiger Bestandteil davon ist das „Kofferprojekt", mit dem die Begriffe: Herkunft, Ankunft, Zukunft verbunden werden. Dieses Projekt soll Menschen verschiedener Herkunft zusammenführen und Begegnungsanlässe schaffen. Die Zugezogenen in Kirchardt sind andernorts aufgebrochen. Jeder hat seine Heimat freiwillig oder unfreiwillig verlassen. Wer mitmacht, soll mit den in seinen Koffer gepackten Erinnerungsstücken zum Erzählen veranlasst werden. Solche gepackten Koffer werden ausgestellt und können besichtigt werden.
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Ausgestellter Koffer (Foto R.Kübler gen.)
 

Unterwegs sind wir alle, denke ich. Mein Köfferchen, das ich aus Berwangen mitgenommen habe, birgt kostbare Erinnerungen, die ich nicht missen möchte.

Europa leben
Das Motto „Kirchardt, wir leben Europa" beeindruckt mich ganz besonders deshalb, weil ich aus Gegebenheiten von vor 50 Jahren ermessen kann, dass viele Brückenbauer am Werk waren und es als Kirchardter verschiedener Herkunft weiterhin sind.
Bei einem Besuch der syrisch-orthodoxen Kirche erfahre ich von dem Pfarrer, dass in dieser Kirche auch schon ökumenische Trauungen stattgefunden haben. Man findet also auch schon familiär zusammen.
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Innenraum der Kirche

Der Bruder des Pfarrers ist in Kirchardt aufgewachsen und nennt mir ihm bekannte Familiennamen aus Berwangen, die mir sehr vertraut sind. Und alle zusammen sind sie Kirchardter von heute. Ihnen wünsche ich ein achtungsvolles, vielgestaltiges Zusammenleben.

Links:
Homepage der Gemeinde Kirchardt
 

Zur syrisch orthodoxen Kirche ihre eigenen Informationen
 

Bericht zum ökumenischen Gottesdienst
 

Publikation der Gemeinde Kirchardt:
Koffergeschichten aus Kirchardt - Ein Migrationsprojekt


 
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