Erfahrungsberichte

Wie Projekte menschliche Begegnungen fördern und bereichern können

Inga Hocke aus Staufenberg bei Gießen hat für ihr Projekt mit der Grundschule in Staufenberg und einer Grundschule in Weißrussland nicht nur einen Preis der Theodor-Heuss-Stiftung, sondern auch die Comenius Auszeichnung verliehen bekommen.(http://www.gpi-online.de/front_content.php?idcat=1275 )
Ich  habe Inga gebeten, über ihre Arbeit zu berichten und möchte dieses spannende Projekt nun auch anderen bekannt machen, denn für mich ist es eine sehr lebendige und effiziente Art, Europa „erlebbar“ zu machen und Vorschein eines  „possible Europe“.

Wie es begann
Es begann mit dem Staunen der deutschen Grundschulkinder über ein Paket mit wunderschönen Handarbeiten und selbst gebastelten Geschenken der Grundschulkinder aus Weißrussland, das sie a am 8. Mai 1995 als Gegengeschenk für ein Süßigkeiten-Paket aus Deutschland erhielten. Damit fand ein entscheidender Paradigmenwechsel statt. Die unbewusste Arroganz der reichen Westler wich einer großen Achtung und einer Begegnung auf Augenhöhe. Das gab der Partnerschaft die entscheidende Dynamik.
Den Kontakt mit der weißrussischen Schule hatte ein Verkehrspolizist, der in einer Tschernobyl-Initiative aktiv war, hergestellt. Nun waren also Pakete hin und her geschickt worden. „Wir könnten doch im Dorf Geld sammeln, um den weißrussischen Kindern etwas Besonderes zu schenken nach dem wunderbaren Paket“ meinten die Staufenberger Kinder und fragten ihre Lehrerin, Frau Hocke, um Erlaubnis. Die konnte sie ihnen nicht geben, aber weil sie es auch nicht verbot, startete die Sammelaktion. Das Ergebnis konnte sich sehen lassen, 500 Deutsche Mark waren zusammen gekommen. Damit konnten Schulmaterialien nach Weißrussland geschickt werden. Nun begann ein reger Briefwechsel, und sehr bald entwickelte sich der Wunsch nach einem Treffen. Doch wie sollte das finanziert werden?
Inzwischen war ein Wettbewerb Demokratisch Handeln für deutsche Schulen ausgeschrieben worden, gefördert von der Theodor-Heuss-Stiftung und der Akademie für Bildungsreform (http://www.demokratisch-handeln.de/ ). Frau Hocke bewarb sich mit der Vorstellung des Projekts ihrer Grundschule. Sie gehörte zu den ganz wenigen Grundschulen, die sich beteiligten.  Die Schule wurde ausgezeichnet und zur Übergabe des Preises in das Rathaus zu Bremen eingeladen. Die positiven Zeitungsberichte bewirkten die Bereitschaft der Eltern, der Schule und der Gemeinde, die weißrussischen Kinder zu empfangen und führte zu Kontakten mit Stiftungen, wie der West-Östlichen Stiftung,  und. Kirchen, um die Reise zu finanzieren.
Die Comenius Auszeichnung in der Paulskirche in Frankfurt am Main im Jahr darauf war die Belohnung für den ersten Aufenthalt der Tschernobyl-geschädigten Grundschulkinder der dritten und vierten Klasse aus Domaschici in Staufenberg-Treis.
Die Kinder kamen im Mai 1996. Die Reisekosten waren durch Stiftungsgelder und vor allem durch ein Benefizkonzert einer weißrussischen Gruppe in Staufenberg-Treis zustande gekommen. Bei späteren Treffen kamen Spenden von Einzelpersonen und Vereinen dazu.
Um den Tschernobyl-Kindern das Einleben zu erleichtern, wurde vereinbart, die Kinder zusammen schlafen zu lassen. Es fand sich ein Saal, in den Betten aufgestellt werden konnten. Tagsüber waren die Kinder in der Schule und stundenweise in den Familien. Die Verständigungsprobleme, es gab keine gemeinsame Sprache, wurden mit Hilfe einer Liste mit den wichtigsten Sätzen, mit Gesten und der Sprache des Herzens“, wie eine der begleitenden Kolleginnen sagte, überwunden.
Eine große Unterstützung erfuhren die Initiatoren durch einige Russlanddeutsche, die sich im nahegelegenen Übergangslager befanden. Sie übersetzten die wichtigsten Informationen und vermittelten bei Problemen. So wurden Ressentiments auf beiden Seiten langsam überwunden, auch die Integration der Aussiedler/-innen kam enorm voran.

Wie es weiterging
Es wurde vereinbart, dass jedes Jahr die dritte und vierte Klasse aus Weißrussland nach Staufenberg kommen sollte. Auf diese Weise kam ein  Kind zwei Mal nach Deutschland. Das erleichterte das Zusammenleben der Kinder mit den Gasteltern, und es fiel leichter, sich zu verständigen. Der gemeinsame Schlafsaal wurde ab dem zweiten Besuch nicht mehr gebraucht. Es zeigte sich auch, dass die Gesundheit der Kinder durch den wiederholten Aufenthalt gestärkt wurde. Kinder, die bis dahin jeden Winter erkrankten,  weil ihr Immunsystem durch Tschernobyl geschwächt war, konnten während ihres Aufenthalts in Deutschland soviel Widerstandskräfte aufbauen, dass sie den Winter besser überstanden.
Zwischen den Besuchen wurden weiterhin Briefe gewechselt.
Da Frau Hocke auch in der Zeitzeugenarbeit engagiert ist, wurde diese Arbeit aus Mitteln der West-Östlichen Stiftung, früher Stiftung der deutsch-sowjetischen Freundschaft, unterstützt (http://www.stiftung-woeb.de/). Spenden an die  Kirche, die wiederum die Arbeit unterstützte und für die Spendenquittungen ausgestellt werden konnten, sowie die Unterstützung durch den Jagdverein und den Bürgermeister,  trugen dazu bei, die Arbeit weiterzuführen. Die Kontakte mit Belarus wurden ausgeweitet durch die Arbeit mit Zeitzeug/-innen und die Teilnahme an den Ost-West-Tagungen in Bonn, Berlin und Geseke. Die Stiftung Erinnerung Verantwortung und Zukunft und das Internationale Bildungs- und Begegnungswerk (IBB) unterstützten die Projekte ebenfalls (http://www.stiftung-evz.de/).
Zwei Mal machte eine kleine Gruppe, Großvater, Mütter und Kinder aus Staufenberg, in Weißrussland einen Gegenbesuch. Sie erlebten Veränderungen in den Häusern, weil die Kinder, die bei ihrem  Aufenthalt in Deutschland Badezimmer und Toiletten im Haus kennengelernt und davon berichtet hatten.
Die Kinder hatten auch erzählt,  dass der „deutsche Papa“ oder der „deutsche Opa“ mit den Kindern gespielt oder ihnen vorgelesen hatte, was in ihrer eigenen Familie bis dahin nicht so üblich war. Dazu begegneten die Kinder in Deutschland demokratischem und umweltpolitischem Gedankengut. Und auch das führte zu Veränderungen im heimischen Familienleben und im Schulleben.
Die Reisen hin und her waren, obwohl Tschernobyl-Kinderreisen bevorzugt abgefertigt wurden, dennoch mit etlichen Stunden Wartezeit  an der polnisch weißrussischen Grenze verbunden. Vom Regime des Präsidenten Lukaschenko gab es keine Unterstützung, im Gegenteil.
Die schlimmen Erfahrungen Weißrusslands mit der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg wurden natürlich diskutiert. Jeder vierte Weißrusse – vom Säugling bis zum Greis - war durch die Auswirkungen des von Deutschland begonnenen Krieges umgekommen (ttp://khatyn.by/de/tragedy/). Deswegen hatte es vor der ersten Reise der Kinder nach Deutschland große Bedenken und Ängste seitens der Familien gegeben, die aber während des  Aufenthalts verflogen.
Mit dem Jugendaustausch war es möglich geworden, Vorbehalte auf beiden Seiten zu überwinden.

Ausblick
Frau Hocke ist seit vier Jahren  aus dem aktiven Schuldienst ausgeschieden. Der Jugendaustausch mit den Kindern aus Tschernobyl geht weiter. Im Sommer 2009 waren wieder Kinder da. Jedoch wachsen mit den wirtschaftlichen auch die familiären Probleme – auch bei uns -, so dass die Besuche irgendwann auslaufen könnten. Für das nächste Jahr sind Besuch und Gegenbesuch allerdings gesichert. Wie es dann weitergeht, hängt auch davon ab, wie Zuschüssen fließen, da die Kirchen massive Einsparungen vornehmen müssen.
Die Zeitzeugenarbeit wird auslaufen, weil viele Teilnehmer inzwischen so alt geworden sind, dass sie sich nicht mehr aktiv beteiligen können, andere sind gestorben. Im Januar 2010 soll noch einmal eine ehemalige Zwangsarbeiterin aus Minsk kommen.
Voraussichtlich wird Zeitzeugenarbeit mit Menschen aus dem Jugoslawienkrieg fortgesetzt werden (vermutlich Ende Juni 2010).
 
Die Hoffnung der weißrussischen Intelligenz auf eine Vereinigung mit Europa ist vorläufig begraben. Die europäische Ostgrenze ist zwischen Polen und Weißrussland festgeschrieben. Umso wichtiger bleiben persönliche Beziehungen über die EU-Ostgrenze hinweg. Zwischen einigen Familien wurden so feste Bande geknüpft, dass die Kontakte sicher weiter bestehen werden.


Wenn sie mit dem Autor/Autorin des Textes in Kontakt kommen möchten, wenden Sie sich bitte an leserbrief@europa-erleben.net



Erdmute Dietmann-Beckert
eingereicht von
Erdmute Dietmann-Beckert
Kategorie
Begegnungen helfen verstehen
Datum
22.09.2009


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