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Wendezeit der Umweltgeschichte

Joachim Radkau
Professor für Neuere Geschichte, Universität Bielefeld

Seite 60 - 97

Moderation: Helmut Dörfler

Zusammenfassung:
Wendezeiten der Umweltgeschichte – die Spuren der menschlichen Natur


Auf den ersten Blick mag es vielleicht überraschen: Unter den vielen Naturwissenschaftlern - Biochemiker, Meteorologen, Mediziner, Geografen, Bevölkerungswissenschaftler, Zoologen, Ozeanografen, Chemikern und Statistiker und Ökologen – ist der Historiker Joachim Radkau (neben dem Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer) der einzige Geisteswissenschaftler oder „Schöngeist“ unter den Autoren unseres Buches. Schaut man dann allerdings etwas genauer hin, dann wird zweierlei deutlich: Der Autor legitimiert seine Kompetenz als Eröffnungsredner bei dem 2005 vom „Forum für Verantwortung“ im saarländischen Otzenhausen veranstalteten Kolloquiums - der Basis unseres diskutierten Buches - nicht nur durch sein 2000 veröffentlichtes fundamentales Buch „Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt“. Sondern es gilt zweifellos auch: Wer sich heute wissenschaftlich mit Fragen unserer ökologischen Zukunft befasst, der kommt nicht aus ohne einen fundierten interdisziplinären Denkansatz aus und braucht einen weiten wissenschaftlichen Horizont.

Radkau ist ein solcher (geistes-)wissenschaftlicher Zeitgenosse mit großem Überblick. Sein Beitrag geht aus von Reflexionen über die „Natur den Menschen“, die er sogleich mit der „Sphäre des Eros“ verknüpft. In einer beachtlichen Volte vom frühmittelalterlichen Dichtertheologen Alanus ab Insulis (1128 – 1202) via jugendliche „Fleischeslust“ des Renaissance-Papstes Pius II. bis hin zur Botschaft des Philosophen Ludwig Klages 1913 zum Treffen der deutschen Wandelvögel auf dem Hohen Meißner geht es ihm eingangs vor allem um die „… weltschaffende Webkraft allverbindender Liebe“ (Klages). Ein überraschender und spannender Einstieg des höchst eindrucksvoll belesenen Autors ins Thema „Umweltgeschichte“.

Um quasi dann mit einer historischen „Rolle rückwärts“ bei der Stoa und ihrer Unterscheidung zwischen natura prima und natura secunda, der Unterscheidung zwischen einer (Zitat) „niederen animalischen und einer höheren, bildungsfähigen Natur des Menschen“ zu landen, die man – so der Autor – auch Kultur (oder historische Natur des Menschen) nennen könne. Eine von Radkau’s vielen, reizvollen und öfter mal etwas gewagten Thesen folgt: „Der Hang zur Mobilität und zu einem verschwenderischen Umgang mit den Ressourcen (sei) im Menschen schon seit Urzeit angelegt.“ Mit der nächsten Historiker-Volte landet der Autor dann direkt bei Max Weber, bei dem er eine verwandte „anthropologische“ Sicht der menschlichen Natur entdeckt: Emotionale Leidenschaften verbunden mit „Prozessen zwanghafter Rationalisierung und Herausbildung von Herrschaftstechniken und Methodiken der Lebensführung.“ (die protestantische Ethik lässt grüßen).

Radkau ist es wichtig, „Wendezeiten der Umweltgeschichte“ wissenschaftlich gut terminiert dingfest zu machen. Das tut er im nächsten Abschnitt, indem er zuerst einmal die traditionell von Kennern so genannten Wendezeiten der neolithischen Revolution mit dem Übergang von Jäger- und Sammler-Existenz unserer Vorfahren zum sesshaften Ackerbau scharfsinnig („ein monumentales Nicht-Ereignis“) ebenso in Frage stellt wie die Wende zur Industriellen Revolution. Um dann bei einer plausiblen Wendezeit „ … von regenerativen zu nichtregenrativen Energieträgern“ zu landen, die er allerdings da gleich wieder relativiert.

Brauchen wir denn für unser historisches Verständnis das Bild von solchen ökologischen Wendezeiten oder ist das eher ein Anliegen des Bielefelder Professors für Neuere Geschichte, solche ökologischen Perioden zu erfinden?

Den dritten Abschnitt seines Beitrags bestreitet Joachim Radkau mit „zehn Thesen zu Wendezeiten in der Mensch-Natur-Beziehung“ die er - allerdings recht vorsichtig – der Fachwelt zur wissenschaftlichen Debatte anbietet. Hier seien sie in der (für mich anfangs etwas verwirrenden) Reihenfolge aufgezählt und zitiert:
  1. Von der freien zur privilegierten Jagd – und zum Jäger-Imperialismus.
  2. Der Pflug und die planende Rationalität
  3. Bewässerungswirtschaft und „hydraulische Gesellschaft“.
  4. Die Nomaden-Natur
  5. Seuche und Sucht, Zucker und Kolonialismus.
  6. Das Ende der Allmende und die Erfindung der geplanten Nachhaltigkeit.
  7. Die Entdeckung der zu schützenden Natur, der modernen Nervosität und der Sozialhygiene.
  8. Der Dust Bowl, die Sorge um den Boden und der Boom der Wasserbauprojekte.
  9. Die weltweite Ausstrahlung des „American way of life“ und schließlich
  10. Die „ökologische Revolution“: ein Happy-End?
Thesen eins bis vier: Das sind geläufige und kenntnisreiche Darstellungen, deren Lektüre viel Spass bereitet. Aber was hat dann anschließend die Seuchenangst des Mittelalters, verlinkt mit Kolonialismus des 18. Jahrhunderts und kolonialem Handel mit Zucker in diesem Artikel zu suchen? Die nächste, neuerliche Volte liest sich so: „Durch den kolonialen Handel wurde der Zucker zudem zum Kernstück einer ganzen Konfiguration von Reizmitteln, die zusammengenommen einen neuen Lebensstil einer permanenten Nervenstimulierung hervorbrachten und den Konsum zu einer Triebkraft des welthistorischen Wandels werden ließen: Kaffee, Kakao, Tee, Rum – und dazu der Tabak. Im 18. Jahrhundert werden die Nerven zum großen Thema.“ Nach diesem doppelten Rittberger landet der Autor dann gekonnt bei der „Kleinen Eiszeit“ wieder auf der ökologischen Eisfläche. Es folgt ein - höchst lesenswerter - Abschnitt über Allmende und Nachhaltigkeit. Sodann verknüpft Radkau das von ihm so genannte „nervöse Zeitalter“ mit den Themen „Naturschutz“, Stadthygiene, und Geburtenkontrolle. Sind das nun historische Purzelbäume oder ernst gemeinte Hinweise auf wichtige ökologische Wendezeiten? Etwas ratlos wendet sich der Leser danach dem knappen Thema „Bodenerosion“ in den USA zu, garniert mit einem Schuss Bewässerungs- und Kernkraftpolitik.
Bei den Thesen neun und zehn überschlagen sich dann nochmals höchst kreativ die ökologischen Themata. Trommelwirbel - und Radkau dreht mit einer Vielzahl von Schlagworten aus der aktuellen Umweltdebatte dann die große Schlusspirouette und zitiert schnell noch das „Prinzip Verantwortung“ von Hans Jonas.

Etwas durcheinander von diesem atemberaubenden Historiker-Parforceritt durch die literarischen Jahrhunderte sucht der Rezensent – nicht zuletzt angeregt von der Tatsache, dass sich Radkau mit Vorliebe selbst zitiert – nach Erklärungen für solcherlei bewundernswerte Gedankensprünge. Und findet sie in den jüngeren wissenschaftlichen Veröffentlichungen des Autors. Bevor Joachim Radkau die Weltgeschichte der Umwelt verfasst hatte, schrieb er über Industrie- und Technikgeschichte, über „Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft“, über „Das Zeitalter der Nervosität, Deutschland zwischen Bismarck und Hitler“ und verfasste eine tausendseitige, heftig debattierte Max Weber-Biografie „Die Leidenschaft des Denkens“. Na also: Jetzt kapiert sogar ein etwas unbedarfter Leser die überraschenden „Wendezeiten der Umweltgeschichte“ und nimmt sich deshalb vor, gelegentlich auch mal das genannte Buch im Urtext zu lesen.

Frage 1: Ökologie prägte zweifellos nachhaltig die Menschheitsgeschichte. Aber: Brauchen wir zum besseren Verständnis wirklich die periodische Einteilung in „Wendezeiten“?

Frage 2: „Trug Max Weber tatsächlich ein Hodenkorsett“ – frägt der Marburger Soziologieprofessor, Dirk Kaesler, etwas maliziös bei seiner Besprechung von Joachim Radkau’s „ultimativer BIO-Grafie Max Webers.“

Frage 3: Wo liegen die Grenzen des akademischen Umweltdiskurses, wenn in 13 Jahren das Klima kippt?